»Den habe ich selber gefangen. Soll ich ihn dir braten?«
»Das ist eine gute Idee. Während du das Essen machst, kann ich an meinem Brief weiterschreiben.« Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.
Jaíra schuppte den Fisch und nahm ihn aus. Sie schnitt die Haut an den Seiten ein, rieb Salz und Pfeffer hinein und träufelte zum Schluss Limonensaft darüber. Während der Fisch in der Pfanne brutzelte und der Reis kochte, ging Jaíra zu Hans an den Schreibtisch und sah interessiert auf das beschriebene Blatt.
»An wen schreibst du?«
»An meine Eltern.«
»Ist das deutsch?« Neugierig versuchte Jaíra die Schrift zu enträtseln.
»Ja, meine Eltern können kein portugiesisch.«
Jaíra kam eine Idee. »Kann ich auch Deutsch lernen?«
Überrascht sah Hans das schlaksige Mädchen an, das ihn mit großen Augen bittend anschaute. »Willst du wirklich? Es ist nicht einfach. Hast du überhaupt Zeit, nach der Schule noch zu bleiben?«
»Ich kann mit einem anderen Kanu in die Schule kommen. Dann muss ich nicht mit meinen Geschwistern zurück und habe Zeit.« Jaíras Gesicht wurde vor Eifer ganz rot.
Ab sofort blieb Jaíra jeden Tag bei Hans und lernte. Am Anfang fiel es ihr schwer, die Worte richtig auszusprechen, bald machte sie jedoch Fortschritte. Sie spürte, dass es auch ihrem Lehrer Spaß machte, sein Wissen an sie weiterzugeben.
Hans hatte ein Kinderbuch auf den Tisch gelegt und Jaíra las den Text. Sie verstand fast alles.
»Wenn du so weitermachst, sprichst du bald perfekt«, lobte er sie. »Dann kann ich dich später einmal mitnehmen, wenn ich nach Deutschland fahre«, versprach er lachend.
»Wirklich?« Stolz leuchteten ihn ihre großen schwarzen Augen an.
Die Sonne versank gerade hinter den hohen Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Das Abendrot verzauberte den Horizont in alle möglichen Rottöne, die immer dunkler wurden, je mehr die große Scheibe der Sonne im Fluss versank. In der Ferne bewegte sich ein Punkt auf dem ruhig dahinfließenden Wasser.
»Na, da kommt ja endlich deine Tochter.« Manara blickte vorwurfsvoll zu ihrem Mann.
»Dass du dir immer so viele Gedanken machst«, antwortete er und legte den Arm um die Taille seiner Frau. »Sie ist vorsichtig und kennt sich aus. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Eduardo kannte seine Tochter. Oft streiften sie gemeinsam wochenlang durch den Urwald, notfalls konnte sie allein in der Wildnis übernachten. Bei ihr zeigte sich wie bei ihm das Erbe seines Großvaters, der noch ein richtiger Indianer gewesen war.
»Ich mache mir mehr Sorgen um ihre Zukunft.« Er drückte Manara fest an sich. »Was soll sie hier im Wald mit ihrem ganzen Wissen? Es macht ihr solchen Spaß zu lernen. Soll sie später auch am Fluss leben, ohne Zukunft, mit vielen Kindern? Das macht mir Angst.«
»Lass uns erst mal ans Ufer gehen und ihr helfen, das Kanu an Land zu ziehen.« Manara löste sich aus seiner Umarmung und ging zum Fluss. Eduardo folgte ihr.
Mit dem letzten Tageslicht stieß die Spitze des Kanus ans Ufer. Stolz stieg Jaíra aus, ihre Augen strahlten, sodass ihr die Mutter nicht mehr böse sein konnte. Außer Atem stand sie vor ihnen.
»Heute war es ganz toll. Wir haben angefangen, ein Buch zu lesen, und Hans hat mir versprochen, mich einmal mit nach Deutschland zu nehmen.«
»Musst du deswegen so spät nach Hause kommen?«, schimpfte die Mutter.
»Es ist doch noch gar nicht dunkel«, entschuldigte sich Jaíra. »Außerdem ist das Buch so schön, ich konnte nicht aufhören. Hans hat mir ein Bier für dich mitgegeben.« Verschmitzt sah sie ihren Vater an, als sie ihm die Dose in die Hand drückte.
»Das ist Bestechung«, lachte der Vater.
Sie gingen die Treppe hoch auf die Plattform über dem Ufer, wo das Haus, geschützt vor dem jährlichen Hochwasser, stand. Es hatte nur einen einzigen Raum, dessen hinterer Teil durch eine Stoffdecke abgeteilt war, hinter der Eduardos und Manaras Hängematten hingen. In dem Raum brannte bereits eine Kerze, die ein schummriges Licht verbreitete. Manara wärmte die Feijão, die schwarzen Bohnen, zu denen sie Reis gekocht hatte. Dazu gab es wie immer Fisch. Hungrig setzte sich Jaíra zu ihren Geschwistern an den Tisch. Nachdem sie fertig war, legte sie sich in ihre Hängematte und schlief gleich ein.
Jaíra veränderte sich, aus dem kleinen Mädchen wurde eine Frau. Ihr Körper rundete sich und langsam wuchsen ihre Brüste. Ihre ältere Schwester Juçara hatte das längst hinter sich und so war Jaíra nicht überrascht, als sie eines Morgens Blut in ihrer Hängematte entdeckte. Manara drückte ihre Tochter fest an sich, als sie ihr von der Neuigkeit berichtete. Hinter einem Lächeln verbarg sie ihre Sorgen, ihr war nicht entgangen, dass die Jungen ihre Tochter anstarrten und versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Mit leisem Plätschern tauchte das Paddel in das dunkle Wasser, langsam glitt das Kanu über den Fluss. Ein Boto, einer der kleinen Flussdelphine, tauchte dicht neben ihr aus dem Wasser und Jaíra musste an die Geschichte denken, dass sich Botos ab und zu in schöne Männer verwandeln, um Mädchen und Frauen zu verführen. Sie folgte ihm, wobei sie wünschte, dass er sich in ihren Traumprinzen verwandeln würde.
Der Boto schwamm flussaufwärts und verschwand schließlich in der Bucht am rechten Ufer, an der sie sonst immer vorbei gepaddelt war, zu viele stachelige Bäume wuchsen dort. Immer noch schwamm der Boto voraus, so als wollte er sie führen. An einer Stelle, an der sich die Baumkronen im hochstehenden Wasser verzweigten, tauchte er. Hinter dichtem Blattwerk hörte Jaíra ihn wiederauftauchen. Sie kämpfte sich durch die Äste, die ihre Haut zerkratzten und jede Menge Krabbeltiere fielen in ihr Boot. Endlich war sie durch und erreichte wieder freies Wasser.
Am anderen Ende mündete ein kleiner Seitenarm. Als sie dort den Boto auftauchen sah, folgte sie ihm weiter, immer noch an den verwunschenen Prinzen glaubend. Hinter einer Kurve erstarrte sie. Der Fluss hatte sich zu einem See erweitert, riesige Bäume standen mit ihren Brettwurzeln im Wasser, Palmen säumten das sanft ansteigende Ufer. Ein Tukan flog an der grünen Wand entlang und verschwand zwischen den Bäumen, mehrere Morpho-Falter, deren blaue Flügel in der Sonne schillerten, tanzten in der Luft.
Schnell legte sie an und stand staunend am Ufer. Dieser Platz gefiel ihr, sie hatte das Gefühl, als gehöre sie hierher. Diese Stelle würde ihr Geheimnis bleiben, niemandem würde sie davon erzählen.
Jaíra träumte wieder an ihrem geheimen Platz. Sie hatte sich aus dünnen Bäumen und Palmwedeln eine kleine Hütte gebaut und lag in der Hängematte, die sie dort aufgehängt hatte. Schwärmerisch glitt ihr Blick über das Wasser. Sie stellte sich vor, hier mit ihrer zukünftigen Familie zu wohnen.
Bisher konnte sie sich für keinen Jungen interessieren, obwohl sie die Annäherungsversuche der Jungen bemerkt hatte und um die Schönheit ihres Körpers wusste.
Vor ein paar Tagen hatte sie mit einigen Freunden zusammengestanden. Neckisch und verspielt hatte sie sie unbewusst gereizt, bis Fabio sie schließlich an sich gedrückt und geküsst hatte. Sie war überrascht und so ließ sie es geschehen. Danach hatte sie sich aus seinen Armen befreit und war unter Gelächter weggelaufen. Später, zu Hause, war sie wie elektrisiert gewesen und hatte die Nacht unruhig geschlafen. Oft beobachtete sie Juçara, wie diese ihre Freunde küsste und bestürzt hatte sie sogar gesehen, dass sie es zuließ, dass die Jungen unter ihr Top griffen und sie dort streichelten.
Während sie weiter an ihren ersten Kuss dachte, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht und sie spürte ein angenehmes, aufregendes Kribbeln in ihrem Bauch. Unwillkürlich dachte sie an die Geräusche, die sie hinter dem Vorhang der Eltern hörte. Erst gestern, als sie wieder über ihren ersten Kuss nachdachte, hatte sie ihre Mutter laut stöhnen gehört; es musste einfach schön sein.
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