Verlegen standen sie sich gegenüber, hielten sich an den Händen und Benedikt glaubte, einen feuchten Schimmer in ihren Augen zu entdecken.
»Es tut mir so leid, dass ich jetzt fliegen muss. Was würde ich dafür geben, länger bei dir zu bleiben.« Benedikt schluckte.
Bevor er sich besinnen konnte, spürte er Andréias Lippen auf seinen. Vorsichtig und zärtlich spielten ihre Zungen miteinander, bis sich Andréia abrupt von ihm löste und ohne sich umzudrehen weglief. Verstört und traurig sah Benedikt ihr nach. Während er seinen Rucksack aufnahm, bemerkte er einen Brief, der aus einer Tasche hervorlugte. Andréia musste ihn dort wohl unbemerkt hineingesteckt haben. Als er im Flugzeug saß, öffnete er ungeduldig den Brief.
»Lieber Benedikt,
ich möchte mich für die schöne Zeit mit dir bedanken. Gerne wäre auch ich länger mit dir zusammengeblieben, leider hatten wir dazu keine Gelegenheit mehr und ich bin traurig, dass unser Zusammensein vorbei ist. Wie gerne hätte ich dich geküsst, jedoch hatte ich Angst, dass es dann weitergeht und ich mir Hoffnungen auf etwas gemacht hätte, was nicht in Erfüllung gehen kann. Wir leben auf verschiedenen Kontinenten und uns trennen viele Kilometer. Gerne werde ich an diese wenigen Stunden denken und träumen, wie es vielleicht hätte sein können.
Ich wünsche dir einen guten Flug und hoffe, dass du ab und zu an mich und unsere gemeinsame Zeit denkst. Andréia.«
Nachdenklich sah er aus dem Fenster. Mit seiner Zunge fuhr er sich über die Lippen, um ihren Kuss wieder zu erwecken und er meinte, den Geschmack ihres Lippenstiftes zu schmecken. Sie hatte recht, eine große Entfernung trennte sie. Wäre es wirklich mehr geworden?
Wieder zu Hause ging ihm Andréia nicht mehr aus dem Sinn. Er stellte sich vor, dass sie beim Essen mit ihm am Tisch saß und abends lag sie neben ihm im Bett. Wieder und wieder las er ihren Brief und immer mehr festigte sich die Gewissheit, dass er sich verliebt hatte.
Andréia hatte ihm keine Adresse gegeben, wie sollte er ihr schreiben? Er war verzweifelt, bis ihm einfiel, dass auf der Rechnung seiner Kamera die Anschrift des Fotoladens stehen musste. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er dort einen verwischten Stempel entdeckte, den er mühsam entzifferte. Sofort setzte er sich hin und schrieb einen langen Brief, in dem er seine Gefühle für sie ausdrückte.
In der kommenden Zeit entspannte sich ein reger Schriftwechsel und wenn die Sehnsucht zu groß wurde, telefonierte er mit ihr. Als sie ihm schrieb, dass sie im nächsten Monat Geburtstag hätte und sich nichts sehnlicher wünsche, als dass er bei ihr wäre, hielt er es nicht mehr aus.
Ein paar Tage vor ihrem Geburtstag saß er im Flugzeug, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Andréia holte ihn am Flughafen ab und gleich nach der Ankunft im Hotel landeten sie im Bett. Der schlanke, braune Körper Andréias, ihr Temperament und ihre Unbefangenheit faszinierten ihn. Erst spät am Abend verließen sie das Hotel, um im Licht der Straßenlaternen am Strand von Ipanema spazieren zu gehen. Dieses Mal küssten sie sich auf der Bank.
Benedikt stöhnte laut, die Augen voller Tränen, bevor er sich mit seinen Erinnerungen weiter quälte. Jetzt war das alles nur noch ein Traum. Kein Kindergeschrei mehr, wenn sich die beiden Schwestern stritten, kein scharfes Wort von Andréia, das die Kinder zur Ordnung rief, es war totenstill im Haus. Kein Kuss, keine zärtliche Hand, die nach ihm griff. Nichts mehr, er war allein.
Wieder war es spät geworden. Eine Durchfallepidemie hatte viele Dorfbewohner krank werden lassen und so hatten Margot und Jaíra, die wieder in der Krankenstation aushalf, viel zu tun. Rosaria hatte es am schlimmsten erwischt, was dazu beitrug, dass sie bis spät in die Nacht die Kranken versorgen mussten. An diesem Abend hatte eine Frau aus dem Dorf die Nachtwache übernommen und so konnten sich Margot und Jaíra in den privaten Bereich zurückziehen. Sie duschten und wärmten schnell die Reste des Mittagessens.
»Dir macht die Arbeit hier Spaß?«, begann Margot, nachdem sie mit dem Essen fertig waren.
Jaíra wischte sich den Mund ab und nickte.
»Bei unserer ersten Begegnung sagtest du mir, dass du gerne dabei sein würdest, wenn die Kinder zur Welt kommen. Jetzt bist du fast schon eine richtige Hebamme.«
Margot spielte darauf an, dass Jaíra zusammen mit Dona Marga, der hiesigen Hebamme, oft unterwegs war und sie von ihr eine Menge gelernt hatte.
»Es war prima, dass ihr mir das alles beigebracht habt, du und Dona Marga. Die Mischung aus ihren Heilmitteln und deinen Methoden ist genau das Richtige für die Leute hier.« Sie dachte an die vielen Entbindungen, bei der sie der älteren Hebamme, die ihr gerne ihr Wissen weitergab, geholfen hatte.
Margot nickte zustimmend. »Möchtest du immer noch nach Deutschland?«, fragte sie vorsichtig.
»Ja, klar möchte ich mal dort hin, es ist mein Traum. Mit Hans kann ich wohl nicht mehr rechnen, immer hat er irgendwelche Ausreden, wenn ich damit anfange und alleine habe ich Angst.«
»Angst vor der großen weiten Welt.« Margot lachte und Jaíra stimmte mit ein.
»So kann man das nennen. Hans hat mir so viel erzählt, ich glaube, ein paar Wochen reichten gar nicht aus, um mir das alles anzusehen.«
»Würdest du mit mir gehen?«, fragte Margot.
»Mit dir?«, ungläubig sah Jaíra sie an.
»Ja, ich habe da eine Idee.« Margot beugte sich vor und Jaíra rückte ihren Stuhl dichter an den Tisch.
»Also«, begann Margot langsam, um Jaíras Spannung zu erhöhen »Also, ich werde bald für einige Zeit nach Deutschland zu meiner Schwester fahren. Du weißt, dass ich mit dem Sehen immer mehr Probleme habe und das will ich operieren lassen. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommen würdest.«
Jaíra war sprachlos, mit offenem Mund starrte sie Margot an.
»Da fragst du noch? Sicher gehe ich mit dir, wenn du mich wirklich mitnehmen willst«, sprudelte es aus ihr heraus. Aber plötzlich kamen ihr Margots Worte in den Sinn, warum sie nach Deutschland wollte. »Ich habe gemerkt, dass du dich beim Sehen anstrengen musst, dass es so schlimm ist, habe ich nicht gewusst. Ist es eine große Operation?«
»Nur ein kleiner Eingriff.« Margot schüttelte den Kopf und lachte, »so hätte ich die Gelegenheit, einmal nach Hause zu kommen. Ich habe da noch eine andere Idee. Du tust hier Dinge, die dürftest du normal gar nicht machen, noch nicht einmal als Krankenschwester, manchmal geht es hier draußen allerdings einfach nicht anders. Rosaria will wegen ihrem Alter bald aufhören und deshalb kam mir der Gedanke, dich als Krankenschwester ausbilden zu lassen.« Margot machte eine Pause und ließ die Worte auf Jaíra einwirken. »Was hältst du davon?«
Sprachlos starrte Jaíra sie mit großen, ungläubigen Augen an.
»Ich ... ich soll wirklich?«
»Warum nicht? Der Gedanke kam mir vor langer Zeit, ich habe dir nur nichts gesagt, weil ich nicht wusste, ob es geht. Es gibt da einige Probleme, aber wenn du wirklich willst, sind die zu lösen. Ich sagte ja, dass meine Schwester leitende Ärztin an der Uni-Klinik ist. Sie kennt viele Leute und so kann sie dir einen Ausbildungsplatz besorgen. Das, was dann noch fehlt, bringe ich dir bei, schließlich war ich lange Jahre selbst in so einer Prüfungskommission und weiß, worauf es ankommt. Du brauchst eine bestimme Anzahl Praxisstunden, was wir hier bei uns lässig hinkriegen und die fehlende Theorie lernen wir.« Margot wirkte so, als wäre alles bereits beschlossene Sache.
»Ich kann es einfach nicht glauben, dass das alles wahr ist.« Verwirrt saß Jaíra am Tisch und malte mit dem Löffel Muster in die restliche Soße auf ihrem Teller.
Von der Idee und der Vorstellung, bald wirklich einmal einen Blick in die übrige Welt zu werfen, war Jaíra hellauf begeistert. Auf Hans zählte sie nicht mehr, denn er sagte, dass er unmöglich lange von hier wegkönnte. Jaíra glaubte eher, er wolle nicht, aus welchem Grund auch immer. Nie hatte er darüber Andeutungen gemacht und Jaíra fragte nicht weiter.
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