»Mãe«, schwer und leise kam das Wort aus ihrem Mund.
Manara beugte sich über ihre Tochter und küsste sie auf den Mund. Tränen liefen über ihr Gesicht und tropften auf Jaíra.
»Jetzt wird alles gut«, versprach Manara. »Du wirst bald wieder gesund, hat die Ärztin gesagt und dann kommst du zu uns.« Sie drückte Jaíras Hand.
Kurz darauf kam Margot ins Zimmer. Die Ärztin lächelte Jaíra an.
»Du hast uns ganz schöne Sorgen gemacht. Ruhe dich erst einmal aus und dann sehen wir weiter.«
Sie strich ihr über die Wange, während Jaíra bereits wieder eingeschlafen war. Routiniert überprüfte sie den Blutdruck und die Temperatur. Besorgt sah sie auf die rote Linie des Thermometers, holte eine Flasche und gab Jaíra eine fiebersenkende Infusion.
Stöhnend öffnete Jaíra ein paar Stunden später wieder die Augen. Ihr ganzer Körper schmerzte und zwischen den Beinen spürte sie eine dicke Binde. Hatte sie ihre Tage bekommen? Es war ihr peinlich, bis ihr zu Bewusstsein kam, dass das nicht sein konnte, sie war ja schwanger.
»Wo ist Adriano?«, fragte sie ängstlich.
Die Worte kamen noch immer mühsam und beim Sprechen fühlte sie eine Lücke zwischen den Zähnen.
»Er ist verschwunden. Keiner hat ihn seither gesehen«, beruhigte Eduardo seine Tochter. »Keine Angst, wir passen auf dich auf.«
Vorsichtig betastete Jaíra ihr verschwollenes Gesicht.
»Ist es sehr schlimm?«, fragte sie Margot.
Margot seufzte und setzte sich neben sie auf die Bettkante.
»Es sieht schlimmer aus als es ist und tut weh, das wird wieder. Da ist jedoch etwas anderes, was ich dir sagen muss.« Sie nahm ihre Hand und sah ihr ins Gesicht. »Du hast das Kind verloren.«
Jaíra schloss die Augen. Viele Dinge gingen in ihrem Kopf herum. Sie hatte mit Adriano zusammengelebt und war deshalb schwanger geworden. Gewollt war das Kind nicht, da sie anfing, an der Beziehung zu Adriano zu zweifeln, es war zwangsläufig passiert. Es war halt so, wenn eine Frau schwanger wurde, wurde es einfach hingenommen. Viele Familien hatten sechs oder acht Kinder, manche mehr. Niemand machte sich darüber Gedanken, Gott hatte es so gewollt.
»Ich habe immer noch Angst, dass Adriano zurückkommt«, drückte Jaíra ihre Sorge aus, als Hans sie wieder einmal besuchte.
»Ein Kanu von Salvatore ist weg. Sie nehmen an, dass er den Fluss hinunter wieder in die Stadt ist«, tröstete er.
»Danke Hans, vor allem dafür, dass du mir keine Vorwürfe gemacht hast, dass ich mich wegen Adriano mit dir und meinen Eltern zerstritten habe. Ich war so dumm.« Sie schüttelte vorsichtig den Kopf. »Immer dachte ich, ich könnte ihn ändern. Später konnte ich nicht mehr zurück, die Blamage war für mich zu groß. Ich hatte Angst, dass ihr mich auslacht.«
»Wenn man verliebt ist, macht man Dinge, die falsch sind und die man später bereut, aber in dem Moment, in dem man es tut, kann man das nicht beurteilen. Man sieht die Welt nur noch mit Scheuklappen und man kann oder man will die Warnungen nicht wahrhaben. Ich bin dir nicht böse, ich bin froh, dass die Sache so ausgegangen ist und du lebst«, antwortete Hans.
»Margot sagt, dass ich bald zu meinen Eltern kann. Dort fühle ich mich sicher. Wenn ‚Pai’ nicht da ist, sind immer noch meine Geschwister zu Hause, sollte Adriano doch noch einmal auftauchen.« Jetzt druckste Jaíra herum. »Das Kind ist tot. Was mir Gedanken macht«, sie sah auf die Bettdecke, bevor sie weitersprach, »es ist mir fast gleichgültig, ja, ich bin sogar froh, es verloren zu haben. Bin ich deswegen ein schlechter Mensch?«, besorgt sah sie Hans an.
»Du bist kein schlechter Mensch, Jaíra.« Hans schüttelte den Kopf. »Adriano hat dich misshandelt und er hat sein Kind selbst getötet. Du hast keine Schuld daran, also mach dir nicht so viele Sorgen«, beruhigte er sie und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dankbar lächelte sie zurück.
Ein paar Tage war Jaíra schon bei ihren Eltern. Sie hockte mit Juçara vor der Hütte auf dem Boden und schälte Mais, als sie Motorengeräusch hörten, das schnell näherkam. Bald erkannten sie das Motorboot von Roberto, in dem Salvatore und Naldino saßen. Auch Manara und Eduardo kamen aus dem Haus und zusammen gingen alle ans Ufer.
Nach der üblichen Begrüßung nahm Naldino Jaíra zur Seite.
»Wie geht es dir?«, erkundigte er sich.
»Der Rücken tut noch ein bisschen weh, sonst ist wieder alles in Ordnung. Danke noch mal, dass du rechtzeitig gekommen bist. Ich glaube, Adriano hätte mich sonst totgeschlagen.«
»Ich möchte mich für ihn entschuldigen. Ich hätte dir schon viel früher helfen müssen, aber er war mein Bruder. Ich wusste, wie er dich behandelt und was er mit dir macht. Oft habe ich vor eurer Hütte gestanden und mitbekommen, wie ihr euch gestritten habt, auch an jenem Abend, weil Adriano besonders wütend war. Deshalb bin ich dortgeblieben und habe gewartet. Ich hörte, wie er dich schlug und du hast furchtbar geschrien. Dann warst du plötzlich still und hast nur noch gewimmert. Da habe ich Salvatore geholt und wir sind hineingegangen. Gerade noch rechtzeitig genug.« Naldino senkte den Kopf »Es tut mir alles so furchtbar leid und ich schäme mich dafür, trotzdem, ich konnte nicht anders. Ich hatte Angst um dich und wollte wissen, was er mit dir macht. Immer habe ich ihm gesagt, dass er dich nicht so behandeln darf, dass du dafür zu schade bist.«
Jaíra sah Tränen in seinen Augen, es tat ihm wirklich leid.
»Es ist jetzt vorbei«, er holte tief Luft. »Julio und Marques haben ihn heute Morgen gefunden, als sie in den Wald gingen. Er hatte einen Schlangenbiss am Knöchel, eine ‚Surucúcu’ muss ihn wohl erwischt haben und bei der hat man keine Chance. Er war schon ein paar Tage tot.« Traurig sah er auf den Boden.
Jaíra fühlte seinen Schmerz, aber auch Erleichterung. Jetzt musste sie keine Angst mehr vor ihm haben. Mit hängenden Schultern stand Naldino vor ihr und unwillkürlich nahm sie ihn in die Arme. Lange standen sie so und trösteten sich gegenseitig.
Langsam fiel die Hektik von ihm ab, während er seiner Familie nachsah, wie sie sich im langen Korridor des Flughafens verlor. Sie waren wie immer spät dran gewesen und so blieb ihnen keine Zeit für einen großen Abschied. Ein zu kurzer Kuss Andréias und eine schnelle Umarmung der beiden Mädchen war alles, bevor sie sich in die Schlange vor der Gepäckkontrolle einreihen mussten.
Als Benedikt sie nicht mehr erkennen konnte, schlenderte er zu seinem Auto und fuhr nach Hause. Seine Gedanken wanderten zu seiner Frau und den beiden Töchtern, die wohl schon im Flugzeug saßen und auf den Abflug warteten. Morgen würden sie in Rio sein, bei Andréias Eltern. Marçia kam im Sommer zur Schule und so hatte Andréia die Chance genutzt, noch einmal für längere Zeit ihre Eltern zu besuchen, bevor sie an die Schulferien gebunden waren. Er wollte in drei Wochen nachkommen und zusammen würden sie wieder nach Deutschland zurückkehren.
Vorfreude kam auf und er legte Andréias Lieblingsdisk ins Autoradio. Gerade spielte das Lied »Não sei mais dormir sozinho« von Leandro & Leonardo.
»Ich weiß nicht mehr alleine zu schlafen«, genau so geht es mir jetzt, dachte Benedikt sentimental, dann lachte er, bald würden sie wieder zusammen sein. Schon spürte er die tropische Wärme und atmete die schwüle, duftgeschwängerte Luft Brasiliens.
In der Wohnung war es still. Er räumte das stehen gebliebene Geschirr in die Spülmaschine und setzte sich ins Wohnzimmer. Ohne die Worte zu begreifen, las er die Seiten eines seit Langem angefangenen Buches. Benedikt konnte sich nicht konzentrieren, die Stille der Wohnung war fast unheimlich und so beschloss er, ins Bett zu gehen, um von seiner Frau zu träumen.
Auf seinem Kopfkissen fand er einen Brief.
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