»Also sind diese Schüsse am 10. August meine nächste Falltür?«
»Ja.«
»Dann muss ich versuchen, diesen Schüssen zu entgehen.« Sam klappte sein Büchlein wieder zu. »Gut. Ich werde mich nicht erschießen lassen.«
Ich runzelte die Stirn, denn das hatte endgültig geklungen: Vielen Dank für die Auskunft, dann ist ja alles geklärt. Das sah ich anders.
»Meinen Sie, es genügt, wenn Sie sich vornehmen, am 10. August etwas besser auf sich aufzupassen?«
»Tut es das nicht?«
Ich verzog skeptisch den Mund. »Möglicherweise. Aber ich denke, dass das zu wenig ist.«
»Ich nicht.«
Sam klang sehr sicher, und ich hätte ihn damit gehen lassen können. Doch ich tat es nicht. Und erinnerte mich an Sams Todesmoment: ein dämmeriges Zimmer, eine schemenhafte Person, helle Lichtblitze. Sam hatte bisher nicht nach Details gefragt, und das wunderte mich. Ich würde es wissen wollen, dachte ich, und zwar alles. Wie lange dauert es. Habe ich Schmerzen. Kann ich noch etwas sagen. Was sage ich. Bin ich allein. Habe ich Angst.
»Wollen Sie gar nicht wissen, wie es passiert?«, fragte ich, Sam verzog den Mund.
»Nicht unbedingt. Finden Sie das wichtig?«
»Ja, durchaus«, sagte ich. »Wenn Sie die Schüsse umgehen wollen. Kurz zusammengefasst läuft es so ab: Sie betreten eine Wohnung. Dort sprechen Sie mit einem Mann, er zieht eine Waffe und bedroht sie. Sie sind überrascht, erschrocken. Er schießt, Sie sterben.«
»Und was ist daran nun wichtig? Der Mann?«
»Alles. Der Mann, Ihre Überraschung, die Schüsse.«
Sam lächelte, und ein neuer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Erleichterung? Ja. Plus ein bisschen Überlegenheit und Überheblichkeit.
»So kann es ja jetzt nicht mehr laufen«, sagte er.
»Warum nicht?«, erkundigte ich mich, Sam sah drein, als wäre das die dümmste Frage des Jahrhunderts.
»Ich weiß doch jetzt, was geschehen wird. Und wäre nicht mehr überrascht über die Waffe. Wenn ich nicht überrascht bin, verläuft die ganze Szene anders.«
»Nicht unbedingt«, antwortete ich, und wischte damit die überhebliche Erleichterung aus seinem Gesicht.
»Warum?«
»Nun«, setzte ich an, »Sie denken, dass Sie Ihr Schicksal schon dadurch geändert haben, dass Sie nun damit rechnen, bedroht zu werden. Sie glauben, weil sie anders reagieren, werden die Schüsse nicht fallen. Ist das in etwa korrekt?«
»Ja.«
»Das ist Blödsinn. Was, wenn dem Mann egal ist, wie Sie reagieren? Ob Sie erschrecken oder nicht? Wenn er den Auftrag hat, Sie zu töten? Oder auch nur den Willen? Dann schießt er, egal was für ein Gesicht Sie ziehen.«
Sam gab ein Knurren von sich.
»Also können Sie immer noch genauso sterben, wie ich es gesehen habe«, fuhr ich fort. »Und: Sie können nicht planen, nicht überrascht zu sein. Überraschung ist ein Gefühl, es kommt von allein. Sie müssen andere Dinge ändern, um sich zu retten. Entscheidende Dinge. Dinge, auf die Sie wirklich Einfluss haben.«
Sam dachte darüber nach, die Uhr stand bei neunzig Sekunden.
»Okay, ich verstehe«, antwortete er schließlich. »Was sagten Sie eben, wo werde ich erschossen?«
»In einem Zimmer in einer heruntergekommenen Wohnung. Es ist dämmerig darin, ich konnte nicht viel erkennen.«
»Gut. Wie wäre es, wenn ich fremde, düstere Wohnungen meide? Mich in einen Park setze? In die Sonne?«
»Kommt ein Auto vorbei und entführt Sie.«
»Haben Sie gesehen, dass mich jemand entführt?«
»Nein. Sie haben das Zimmer aus freien Stücken betreten. Dann fielen die Schüsse. Aber wenn Sie sich nur etwas anders verhalten, können Ihre Mörder ebenfalls umdisponieren. Das Zentrale ist Ihr Tod.« Ich sah Unverständnis in seinem Blick. »Konzentrieren Sie sich nicht auf die Schüsse, auf den Raum oder die Tageszeit«, betonte ich nochmals, »sondern darauf, dass Sie umgebracht werden sollen. Die Methode ist nebensächlich, ebenso der Ort oder die Zeit. Man könnte Sie auch zwingen, dieses Zimmer zu betreten, wenn Sie nicht freiwillig kommen, diese Wohnung aber unbedingt der Tatort sein soll.«
»Mich zwingen? Wie denn?«
»Jeder hat etwas, mit dem man ihn erpressen kann. Wenn man drohen würde, Ihre Mutter umzubringen, Sie das aber verhindern können, wenn Sie zu einer bestimmten Adresse kommen, dann werden Sie gehen. Und betreten freiwillig einen Raum. In dem man auf Sie schießt.«
Sam sah nicht überzeugt aus, was entweder an seiner Frau Mama oder meinen Argumenten lag. Ich seufzte und versuchte es ein letztes Mal.
»Sie können Ihr Schicksal nicht ändern, wenn Sie nur solche Kleinigkeiten angehen. Wie zu glauben, man könne Sie nicht mehr überraschen, oder sich in die Sonne zu setzten.«
»Dann sagen Sie mir, wie ich es machen soll.«
Die Stoppuhr signalisierte mit einem leisen Piepsen, dass Sams Zeit abgelaufen war, ich brachte sie zum Schweigen.
»Was war das?«, erkundigte er sich.
»Ihre Zeit ist um.«
»Ich bin aber noch nicht fertig!«
»Oh doch. Ich habe Ihnen für Ihre 9.999 Euro eine 'Was'-Frage beantwortet: Was passiert am 10. August«, entgegnete ich, langsam am Ende meiner Geduld. »Jetzt haben Sie eine neue Frage: Wie kann ich verhindern, dass ich am 10. August sterben werde? Eine neue Frage erfordert eine neue Sitzung. Eine weitere Stunde.«
»Warum?«
Seine Stimme klang herausfordernd.
»Weil Sie Ideen haben müssen. Beispiel Flugzeugabsturz: Nicht fliegen. Das wäre einfach. Beispiel 'nicht ermordet werden': Das ist komplizierter. Sie müssen sich überlegen, was Sie tun werden – nicht gern tun würden oder vielleicht tun könnten, sondern wirklich tun können und tun werden. Sie sind kein zufälliges Opfer, Sie werden gezielt getötet. Finden Sie den Grund, bringen Sie etwas ins Rollen, verändern Sie etwas Wichtiges. Dann kann ich erneut in Sie hinein sehen und schauen, ob das geholfen hat.«
»Ob die Falltür weg ist?«
»Ja. Ich werde wissen, ob Ihre Maßnahmen greifen, oder ob Sie nur anders sterben. Sicher möchten Sie am 10. August genau so wenig erstochen oder erdrosselt werden?«
»Ertränkt auch nicht«, sagte er, ich dachte an dreckiges Flusswasser in meinem Mund, schauderte – was er bemerkte und mich ärgerte. Das hier lief ganz und gar nicht so, wie es üblich war. Wie es gut war. Ich antwortete nicht, sah ihn nur an. Wartete ab.
»Eine weitere Stunde?«, fragte Sam schließlich, ich nickte.
»Ja.«
»Für 9.999 Euro?«
»Ja.«
»Wo soll ich das Geld hernehmen?«
»Jeder hat 9.999 Euro. Verkaufen Sie etwas. Wenn Sie tot sind, können Sie es eh nicht mehr ausgeben.«
»Was soll ich verkaufen? Mein Auto? Meine Wohnungseinrichtung?«
Ich verzog den Mund. »Wenn Ihre Wohnung im gleichen Zustand ist wie Ihr Auto, sollten Sie noch was anderes in der Hinterhand haben.«
Sam merkte auf.
»Was haben Sie gegen mein Auto?«, fragte er, ich schüttelte amüsiert den Kopf. Er hatte die Mörder im Nacken und sorgte sich darum, was sein fahrbarer Untersatz für einen Eindruck machte!
»Es ist eine Schande für seine Zunft«, gab ich zurück. »Es hat die billigsten Stahlfelgen drauf, die man auf dem Schrottplatz bekommen kann, der rechte Außenspiegel stammt von einem zehn Jahre jüngeren Modell, das Dach wird von Klebestreifen zusammengehalten und der Motor röchelt, als würden Sie Heizöl tanken.«
Sam bedachte mich mit einem bösen Blick – scheinbar mochte er sein Auto. Aber wenn man etwas mochte, sollte man es gut behandeln.
»Ich glaube, ich muss Ihnen langsam mal ein Kompliment machen«, sagte er, ich runzelte die Stirn. Komplimente bekam ich von meinen Kunden des Öfteren, zusammen mit Dankesbriefen, Blumengebinden, Obstkörben und Pralinenpackungen. Aber Sams Stimme hatte vor Ironie getrieft. Und er hatte jetzt einen Gesichtsausdruck, als hätte er die Nadel im Heuhaufen gefunden, den Knoten durchschlagen oder was auch immer: Er sah schon wieder aus, als wäre er verdammt stolz auf sich.
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