Der Erfinder betrachtet die künstliche Intelligenz neben sich. Ihre virtuelle Existenz hat es in sich. Gewisse Teile ihres Körpers trotzen der Schwerkraft wie in einem Superheldinnen-Comic. Weder die Kurven noch der Lederfetisch sind Teil ihrer ursprünglichen Programmierung. Wenigstens durften die roten Haare, die kupferfarbene Haut und die violett getönte Brille bleiben. Der unfreiwillige Schöpfer der Sexbombe seufzt. Innerhalb weniger Jahre hat das selbstlernende Computerprogramm eine eigene Persönlichkeit, Vorlieben und Macken entwickelt, die so weder geplant noch vorhersehbar waren.
»Zieh dir endlich was Ordentliches an. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das bei mir nicht wirkt?«
Enola zieht einen Schmollmund.
»Sei doch nicht so prüde. Wir sind schließlich allein.«
Das stimmt. Sam sitzt in dem kleinen Aufenthaltsraum des Bunkers, den er zu seinem Labor erklärt hat. Allein. In der realen Welt ist das quadratische Zimmer funktionell und spartanisch eingerichtet. Die Wände kahl. Der Erfinder hatte weder Lust noch Muße, sich mit der Ausgestaltung des Raums in der wirklichen Welt zu befassen. Stattdessen gestaltete er sein eigenes Holovers als eine Lichtung an einer Flussbiegung. Enola und er sitzen sich gegenüber, jeder auf einem Holzstamm. Ein blauer Schmetterling ruht mit ausgebreiteten Flügeln auf einer Sommerfliederrispe und lässt sich von der Sonne wärmen. Anfangs hatte er keinen Namen. Bis Vilca in Sams Leben trat. Sie hat ihn Morpheus getauft.
Sam verleiht seinem Befehl mit stahlharter Mine Nachdruck. Enola schmollt noch mehr, gehorcht letztendlich und verhüllt ihren Körper mit einem hochgeschlossenen Kleid in Schwarz mit Goldbestickung. Auf den ersten Blick durchaus gesellschaftsfähig, bei genauerem Hinsehen regen sich Zweifel. Er beschließt die Allüren seiner Assistentin zu ignorieren und sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er deutet auf einen Holzstab, der im Gras liegt.
»Mach dir lieber Gedanken darüber, wie viel Akkukapazität wir in diesen Wanderstab integrieren können.«
Enola erstarrt für ein paar Sekunden. Dann legt sie los.
»Es kommt natürlich auf die Größe an. Die wiederum hängt von der Konstitution der Person ab, die ihn benutzt. Was Aya gut in der Hand liegt, ist für Urs nicht mehr als ein besserer Zahnstocher. Dann kommt es noch auf die Stabilität an. Soll er im Notfall auch als Waffe dienen? Welches Holz steht uns zur Verfügung? Ideal wären Hasel, Schwarzdorn oder Esche. Die sind langfaserig, elastisch und nicht zu schwer. Wir haben nur Buche und Ba...«
Sam unterbricht sie mit einem Blick an die Decke.
»Enola! Bitte, komm zum Punkt.«
Die KI hält die Luft an und mustert ihren Meister über den Rand ihrer Brille.
»Na schön. Neun Kilowatt in einem kleinen Stab für Aya und elf in einem der Urs‘ Konstitution entspricht. Den Rest kannst du in der Dokumentation nachlesen, die ich für dich produziert habe.«
Der Erfinder greift sich das Blatt Papier, das sie ihm hinhält und wirft einen Blick darauf. Zehn Kilowatt für einen mittleren Stab. Das reicht für sieben Tage und vier Stunden, bei großzügigem Einsatz der elektronischen Hilfsmittel. Er nickt zufrieden.
»Nicht schlecht. Damit sind wir autark. Das gibt uns ausreichend Bewegungsfreiheit für das Leben nach der EMP-Katastrophe. Das hoffe ich zumindest.«, fügt er nachdenklich hinzu.
Enola runzelt die Stirn.
»Ich frage mich, was dich zu dieser Hoffnung veranlasst. Wir haben keine Ahnung, wie viel Schaden die elektromagnetische Strahlung der im Weltall gezündeten Atombomben angerichtet hat. Je nach Verfügbarkeit der elektrischen Infrastruktur ist unser Bewegungsradius im schlimmsten Fall auf eine Woche im Umkreis unseres Bunkers beschränkt.«
Sam reibt sich das Kinn.
»Zumindest solange wir die Annehmlichkeiten von digitalen Assistenzsystemen, Kommunikation und Nanobots genießen wollen.«, stimmt er zu. »Wenn es wirklich so schlimm ist, müssen wir uns mit diesen Hilfsmitteln ganz besonders vor dem Neid der anderen Menschen in Acht nehmen. Umso wichtiger ist es, sie unauffällig in unsere Kleidung und Alltagsgegenstände zu integrieren.«
»Ich verstehe! Da bieten sich so Sachen an wie Minirechner in Amulette oder Gürtel, Transceiver und Antennen in Hüte, Akkus in Wanderstäbe und Nanobots in Halsketten einzubauen.«
Sam reißt die Augen auf und staunt seine Assistentin an.
»Super Idee! Ich möchte, dass du sofort mit der Planung beginnst.«
Der Erfinder wundert sich über Enolas verwirrten Gesichtsausdruck. Hatte sie etwa ihren Vorschlag ironisch gemeint? Nachdenklich schüttelt er den Kopf.
***
Mit Enolas Hilfe setzt Sam seine Ideen in die Tat um. Nur wenige Wochen nach ihrem Gespräch im Labor, ist er bereit für eine Demonstration vor seinen Freunden. Er präsentiert seine komplette Ausrüstung vor versammelter Mannschaft. Es gibt gleich Abendessen und der Tisch ist schon gedeckt. Das Aufenthaltsraum-Holovers liefert diesmal leise Sirtaki-Musik, blau gestrichene Stühle und eine Tischplatte aus Treibholz. Sogar ein knorriger Olivenbaum ragt in den Nachthimmel auf und rundet das Tavernenambiente ab.
Stolz und selbstbewusst betritt er das Lokal. Urs schaut ihn mit großen Augen an und lacht schallend los. Auch die anderen stimmen schnell ein. Vilca versucht noch eine Weile krampfhaft sich auf kichern zu beschränken, gibt dann aber auf und prustet lauthals los.
»Schön, dass ich euch so erheitern kann.«, bemerkt Sam frustriert. »Würdet ihr bitte die Güte aufbringen mir zu erklären, was hier so lustig ist?«
Vilca müht sich, ihr Lachen zu unterdrücken. Nach einer Weile gelingt es ihr auch. Danach sieht sie ihrem Geliebten in die Augen. Sie gibt ihr Bestes, ihre Stimme ernst klingen zu lassen:
»Du siehst aus wie Gandalf, der Kunterbunte.« Bei der letzten Silbe ist ihre Ernsthaftigkeit dahin und sie bricht mit den anderen wieder in schallendes Gelächter aus. Tränen laufen über ihre Wangen.
Sam unterdrückt einen Fluchtimpuls. Er stammelt eine Erklärung, bei der Worte wie »Funktion wichtiger als Mode«, »begrenzter Kleiderfundus« und »praktischer Nutzen« vorkommen, die aber im allgemeinen Gelächter untergehen. Schließlich schweigt er und presst die Zähne aufeinander.
»Schicker Hut.«, kommentiert Paul. »Wenn Gandalf so zu Saruman gegangen wäre, hätte der sofort einen schweren Farbschock bekommen, wär' freiwillig aus seinem Turm geflohen und hätte Mittelerde schnurstracks auf immer und ewig verlassen.«
»Hoppla!«, Urs schafft es gerade noch rechtzeitig, Aya festzuhalten, bevor sie vor Lachen unter den Tisch rutscht.
»Also, das wird mir jetzt zu bunt hier. Hört auf zu lachen.«, ruft Sam, aber keiner hört auf ihn.
»Mir ist auch schon ganz kunterbunt.«, presst Vilca, mühsam beherrscht zwischen zwei Lachern hervor.
Nun gerät Urs seinerseits in Gefahr unter den Tisch zu rutschen. Aya versucht, ihn zu halten, aber angesichts der Körpermasse ihres Freundes wirken ihre Anstrengungen eher wie eine Geste.
»Jetzt reicht’s!«, donnert Sam, um das Gelächter zu übertönen. »Ich bin hier nicht euer Cyberwitzard.« Er stößt mit seinem Stab so heftig auf den Boden, dass der ganze Raum dröhnt und die Blätter des Olivenbaums zittern.
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