Die beiden schwingen ihre Mäntel um sich und ziehen die Kapuzen hoch. Kurz darauf sind sie kaum mehr zu sehen.
»Achte darauf, immer so nah wie möglich an einer Wand zu bleiben.«, mahnt Sam. »Wände sehen in der Regel aus jeder Richtung ziemlich gleich aus. Das erhöht unsere Chancen nicht gesehen zu werden.«
Vilca kichert trotz der angespannten Situation. Sam hebt eine Augenbraue. Sie zuckt mit den Schultern. Er schüttelt den Kopf und setzt sich in Bewegung. In Windeseile erreichen sie das Ende des Korridors. Dort befindet sich der Raum, in dem die Polizisten ihre Wanderstäbe und Rucksäcke deponiert haben. Die Tür ist verschlossen, aber mit den Nanobots ist es kein Problem, sie geräuschlos zu öffnen. Während Sam auf dem Gang Wache hält, holt Vilca ihre Ausrüstung aus dem Zimmer. Dann machen sie sich auf den Weg Richtung Ausgang. Als sie mitten auf dem Gang sind, hören sie jemanden die Treppe hochkommen.
»Mist!«, brummt Sam. »Das ist genau die Treppe, die zum Ausgang führt. Gerade jetzt kommt jemand.«
Vilca sieht sich um. »Hier!«, flüstert sie. »Wir stellen uns vor die Tür, da haben wir seitlichen Sichtschutz durch den Türrahmen.«
Es funktioniert. Die Polizeibeamtin geht nicht einmal einen halben Meter entfernt an ihnen vorbei, ohne sie zu bemerken. Die beiden wollen gerade weitergehen, als sie Schritte von der anderen Seite hören. Diesmal ist es ein Polizeibeamter. Der Zufall will es, dass er genau in den Raum will, vor dessen Tür Sam und Vilca stehen. Sein Pech! Er erhält einen gezielten Schlag aus dem Nichts gegen die Schläfe. Sam fängt ihn auf und lässt ihn geräuschlos zu Boden gleiten.
Inzwischen ist Vilca bereits Richtung Treppe unterwegs. Sam stellt fest, dass sie selbst in Bewegung kaum zu sehen ist. Nur weil er weiß, in welche Richtung Vilca geht, kann er an den Schlieren und Verzerrungen vor ihm erkennen, wo sie gerade ist.
Sie kommen zwar unbemerkt die Treppe hinunter, müssen aber feststellen, dass der Ausgang bewacht ist. Neben der Tür ist ein Empfangsraum, der, soweit sie das sehen können, mit vier Polizisten besetzt ist. Da die Tür geschlossen ist, gibt es keine Möglichkeit, unbemerkt nach draußen zu kommen.
»Was machen wir jetzt?«, flüstert Vilca. »Warten, bis jemand rausgeht oder einfach rausstürmen?«
Sam überlegt nicht lange.
»Lass uns so schnell wie möglich abhauen. Mit den Tarnmänteln können sie uns kaum sehen. Bis sie reagieren, sind wir zumindest draußen. Wenn sie erst die bewusstlosen Polizisten entdecken und Alarm schlagen, riegeln sie bestimmt alles ab.«
Es klappt. Draußen stehen zwei Wachposten, die sich wundern, dass plötzlich die Tür aufgeht, obwohl niemand zu sehen ist. Bevor sie sich von ihrer Überraschung erholen und reagieren können, kommen sie in den Genuss eines nachhaltigen Abschiedsgrußes, von dem sie sicher noch ein paar Tage was haben werden. Vilca und Sam lassen die Polizisten hinter sich und rennen die Straße hinunter in Richtung Stadtausgang. Ihre Schritte hallen von den Häuserfassaden wider. Passanten drehen sich suchend um und versetzen sich gegenseitig mit verwunderten Blicken in Unruhe.
Sam und Vilca kehren erst spät abends wieder heim. Sam öffnet die Luke zu dem Schacht, den sie gegraben haben, um sich aus dem Bunker zu befreien. Nacheinander steigen sie die Leiter hinab. Der Erste, dem sie unten begegnen, ist Paul.
»Na, endlich!«, begrüßt er sie.
Vilca sieht ihn irritiert an.
»Du wusstest doch, dass wir aufgehalten wurden. Wir haben doch über Funk Bescheid gegeben.«
»Ja, schon, », antwortet Paul. »trotzdem habe ich mir nach all den Überfällen Sorgen gemacht.«
»Zum Glück gab es keine weiteren Zwischenfälle. Habt ihr uns noch was vom Essen übriggelassen?«, erkundigt sich Sam. »Ich habe Hunger wie ein Bär.«
»Es ist noch genug da.«, ruft Urs aus dem großen Gemeinschaftsraum des Bunkers. »Ihr müsst es euch nur aus der Küche holen.« Während er das sagt, kommt ihnen Aya entgegen und verdreht die Augen.
»Urs hat mal wieder seinen sozialen Tag. Ihr müsst müde sein. Geht schon mal rein. Paul und ich bringen euch was zu essen.«
Urs Aufmerksamkeit hängt an Sams und Vilcas Lippen, als sie ihr Abenteuer in allen Einzelheiten erzählen. Die Stelle mit den Tarnmänteln weckt ganz besonders sein Interesse. »Ha, sie funktionieren also!«, ruft er dazwischen.
Sam lehnt sich zurück und zieht einen Mundwinkel nach unten.
»Natürlich funktionieren sie. Ich habe sie schließlich erfunden.«
Urs merkt nicht mal, dass er Sam mit seiner Bemerkung kränkte.
»Daran besteht für mich kein Zweifel. Aber dass sie so gut sind, dass jemand in weniger als einem Meter Abstand an einem vorbeiläuft und nichts merkt, ist einfach fantastisch.«
Der Bodybuilder grinst über das ganze Gesicht. Danach wird es still. Schließlich unterbricht Paul das Schweigen.
»Und was unternehmen wir als Nächstes?«
»Tja.«, sagt Sam. »Ich fürchte, früher oder später müssen wir für uns herausfinden, was wir wollen. Wir haben das jetzt lange genug vor uns hergeschoben.«
»Ich will zurück nach Berlin.«, schießt Vilca los. »Ich kann mir nicht vorstellen, bis an mein Lebensende hier in diesem Bunker zu versauern.«
»Hier haben wir aber alles, was wir brauchen. Das reicht für die nächsten Jahre.«, sagt Sam vorsichtig. »Du hast doch gesehen, wie angespannt die Lage allein schon in den umliegenden Dörfern ist. In Großstädten wie Berlin wird sie noch sehr viel schlechter sein.«
Vilca bekommt Unterstützung von Urs. »Ich halte das auf Dauer auch nicht aus. Wenn wir konzentriert brainstormen, finden wir bestimmt eine Lösung, wie wir das alles hier unbemerkt nach Berlin bringen können.«
Aya wirft ihm einen skeptischen Blick zu.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir Vorräte für die nächsten fünfzig Jahre unbemerkt nach Berlin schmuggeln können. Selbst wenn, stell dir vor, was passiert, wenn das rauskommt. Auf das Horten von Lebensmitteln in dieser Größenordnung steht die Todesstrafe.«
Sam muss unwillkürlich in die Richtung ihrer Vorratskammer blicken.
»Du hast recht, Aya, aber es spielt keine Rolle, wo die Vorräte aufgehoben werden.«
Aya wird blass, als ihr bewusst wird, dass sie de facto bereits im Konflikt mit dem Gesetz stehen.
»Wir müssen mit den Behörden reden. Die sollen das Zeug abholen. Ich habe keine Lust, deswegen hingerichtet zu werden.«, sagt sie entschieden.
Urs schüttelt den Kopf. »Einfach so alles weggeben? Und wovon sollen wir dann leben? Du hast doch die Leute in den Dörfern gehört. Das Letzte, was die brauchen können, sind noch ein paar mehr zum Durchfüttern.«
Die Augen der Chinesin wandern unstet hin und her. »Sie werden uns doch sicher einen fairen Anteil lassen, oder?«
Das Schweigen in der Runde spricht Bände. Schließlich wird es von Sam durchbrochen.
»Nach allem, was wir bisher gehört haben, ist mir da zu viel Willkür im System. Erinnert euch an das, was die zwei Bauern gesagt haben. Das System von Arbeitssoll und Zuteilung erscheint völlig beliebig. Keiner versteht es. Weiter ist da die Sache mit der Stadt, in der Vilca und ich waren. Dort haben die Polizei und die lokalen Banden zusammengearbeitet.
Читать дальше