„Nein, ihr braucht nicht zu kommen. Ich habe ihn und sein Flittchen gleich gestern rausgeschmissen. Und alle ihre und seine Sachen habe ich über den Balkon nach unten geworfen. Carmen, das war so schrecklich. Ich glaube, ich werde nie wieder glücklich.“
„Das hast du gemacht? Wow, Respekt! Das hast du gut gemacht. Alle Hochachtung! Der hat es nicht anders verdient. Soll ich nicht doch vorbeikommen? Du solltest jetzt nicht allein sein“, erwiderte Carmen beeindruckt, aber auch besorgt.
„Nee“, näselte Maren. Vor lauter Weinen war ihre Nase verstopft. „Brauchst du nicht. Ich bin nicht zu Hause. Als ich weder dich noch Kira erreicht habe, weil ihr im Urlaub ward und es schon so spät war, habe ich meine Eltern angerufen. Die sind dann gleich heute Morgen bei mir aufgetaucht, um mich zu trösten und mir beizustehen. Und weil sie mich nicht allein lassen wollten und ich auch nicht allein bleiben wollte, habe ich eingewilligt, mit ihnen in den Urlaub nach Südtirol zu fahren. Aber ich glaube, das war eine saublöde Idee.“ Es fühlte sich gut an, endlich all den Frust rauslassen zu können. „Stell dir vor, wir hatten zwei Unfälle!“
„O mein Gott! Euch ist doch hoffentlich nichts passiert?“ Carmen war hörbar entsetzt.
„Nein, Gott sei Dank. Beim ersten Unfall ist einem Reisebus vor uns ein Reifen geplatzt. Da ist nur von den umherfliegenden Reifenteilen der Kühlergrill von Papas Auto etwas beschädigt worden. Dafür ist uns beim zweiten Unfall ein anderes Fahrzeug volle Kanne von hinten aufgefahren, als wir an ein Stauende herangefahren sind.
Der Kofferraum von Papas Auto ist total zusammengequetscht worden. Wie durch ein Wunder ist niemanden etwas passiert, nur Blechschaden. Mama ist mit ihren Nerven am Ende, Papa trauert um sein Auto. Die Polizisten vor Ort waren super nett und hilfsbereit und haben uns erstmal in eine Pension gebracht, die in der Nähe der Werkstatt ist, wo Papas Auto hingebracht wurde.
Nachher wird uns unser Gepäck gebracht, wenn die Mechaniker unsere Koffer aus dem Kofferraum – oder was davon noch übrig ist – rauspfriemeln können. Der Sachverständige kommt aber erst am Montag. So lange sitzen wir hier in diesem Kuhdorf Nußdorf fest. Toller Urlaub! Wenn wir keinen Ersatzwagen bekommen oder meinen Eltern diesen Schock nicht überwinden, war’s das und wir können nicht weiter nach Südtirol fahren.
Ach, Carmen, ich bin gestrandet in Nußdorf! Alles hat sich gegen mich verschworen, als soll es nicht sein. Und an allem ist dieser … dieser Blödmann Thomas Schuld. Am liebsten würde ich den nächsten Zug nach Hause nehmen, aber ich kann meine Eltern jetzt auch nicht im Stich lassen. Immerhin haben sie extra den Umweg über Hannover gemacht, um nach mir zu sehen. Sonst wäre das hier alles nicht passiert.“
„Ach, Maren, du tust mir so leid. Kann ich was für dich tun?“
„Sag Thomas auf gar keinem Fall, wo ich bin. Der soll erst einmal schmoren. Den will ich jetzt nicht sehen. Er ruft mich laufend an und sendet mir eine Nachricht nach der anderen.“
„Er möchte sich vielleicht entschuldigen. Es könnte ja auch ein Ausrutscher gewesen sein. Er hat sicherlich ein schlechtes Gewissen. Du solltest dich auf jeden Fall mit ihm aussprechen. Es gibt sicherlich noch so einiges zu klären.“
„Ja, bestimmt, irgendwann vielleicht. Jetzt bin ich nur zu enttäuscht von ihm und will vorerst nichts mit ihm zu tun haben.“
„Alles klar, Süße. Du kannst dich auf mich verlassen. Und wenn du Hilfe brauchst oder was anderes, dann rufst du mich an, okay?“
„Okay, Carmen. Das mache ich.“
Die beiden verabschiedeten sich voneinander, und Maren schaltete ihr Smartphone aus, damit sie nicht mehr von Thomas’ Nachrichten genervt wurde.
Die Wirtin, Frau Gruber, kam gerade aus dem Haus mit einem Tablett in der Hand. Sie machte trotz ihres Alters – Maren schätzte sie auf Mitte fünfzig – in ihrem Dirndl eine gute Figur. Ihre langen, blonden Haare trug sie in Zöpfen um den Kopf herumgewickelt wie eine Krone.
Frau Gruber stellte Maren eine Tasse Kaffee, einen Teller mit gedecktem Apfelkuchen, auf dem ein ordentlicher Schlag Sahne thronte, und ein kleines Schnapsglas mit selbstgebrautem Enzian hin. „So, jetzt stärken Sie sich erst einmal. Das Schnäpschen ist gegen den Schock. Sie sehen wirklich sehr mitgenommen aus. Aber morgen wird es Ihnen und Ihren Eltern bestimmt wieder gut gehen. Sie brauchen nicht traurig sein. Bis Montag können Sie sich in unserem schönen Dorf umschauen und erholen. Die Umgebung lädt zum Wandern ein.
So, jetzt lasse ich Sie wieder allein. Ich bereite das Abendessen für meinen Mann Schorsch zu. Wenn Sie was brauchen, melden Sie sich. Sie finden mich in der Küche.“
Maren trank genüsslich ihren Kaffee. Das heiße Getränk war sehr wohltuend. Sie merkte, dass sie ruhiger wurde. Der Kuchen schmeckte unfassbar gut. Beim Essen merkte Maren, wie hungrig sie inzwischen war.
Die Glocken der kleinen Dorfkirche begannen, zu läuten, und luden zum Samstagabend-Gebet ein.
Eigentlich sehr idyllisch hier, dachte Maren, als sie so in der Abendsonne saß. Sie schloss die Augen und genoss die Ruhe.
Nach einer Weile öffnete Maren sie wieder, nahm das Schnapsglas und trank den selbstgebrannten Enzian in einem Schluck, als plötzlich ein verbeulter Kleinbus mit Karacho auf den Hof der Familie Gruber fuhr und vor der Bank, auf der Maren saß, mit dem lauten Knall einer Fehlzündung zum Stehen kam.
Maren schreckte zusammen und hopste gefühlt einen Zentimeter von ihrem Sitzplatz hoch. Dabei verschluckte sie sich so sehr an ihrem Enzian, dass sich ein Tröpfchen des scharfen Alkohols den Weg nach unten durch ihre Luftröhre suchte.
Maren hustete derart stark, dass sie keine Luft mehr bekam. Mit Mühe rang sie nach Atem.
Genau so muss sich ein Fisch auf dem Trockenen fühlen , dachte Maren.
Aus dem Kleinbus sprang ein junger Bursche. „Grüß Gott, ich komme von der Reparaturwerkstatt Fischbach. Sind Sie Frau Förster?“
Das werde ich wohl gleich tun, wenn ich erstickt bin , dachte Maren und wollte ihm antworten, konnte es aber nicht. Sie japste nach Luft und hustete. Sie konnte die Luft nur geräuschvoll einatmen und mit kräftigem Husten wieder ausatmen. Mit Mühe und Not bekam Maren ein Nicken zustande.
Der junge Bursche, wohl Ende zwanzig, mit dunkelblonden, etwas längeren, zurückgekämmten Haaren, die er an den Seiten kurz trug und zu einer James-Dean-Frisur gekämmt hatte, schaute Maren hilflos aus seinen blauen Augen an. Mit seiner lässig in den Mundwinkel geklemmten Zigarette erinnerte er wirklich an den Teenager-Rebell der Fünfzigerjahre. Seine rote Latzhose war ölverschmiert, darunter trug er ein blaues T-Shirt, das auch nicht mehr sauber war.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er sichtlich mit der Situation überfordert. Er schaute nach rechts und links, in der Hoffnung, die Wirtin irgendwo zu entdecken.
Maren fuchtelte jedoch abwehrend mit den Händen. Von dem angestrengten Husten liefen ihr Tränen aus den Augen, und an ihrer Nase hing ein Wassertropfen.
„Ah … ja, dann, also, hier sind Ihre Koffer – oder das, was von ihnen übrig ist. Sie sind etwas verbeult und teilweise aufgeplatzt. Wir waren so vorsichtig wie möglich, aber, na ja, Sie sehen ja selbst …“ Er zeigte hilflos auf die Gepäckstücke. „Ich bin übrigens Tobias Lechner aus der Reparaturwerkstatt Fischbach … Okay, ich bringe Ihre Koffer dann mal ins Haus.“
Während er sich schnell entfernte, suchte Maren in ihren Hosentaschen krampfhaft nach einem Taschentuch. In dem hintersten Zipfel fand sie schließlich eins, dass die letzte Wäsche mit überstanden hatte und nun wie ein Stein zusammenklebte. Dankbar für diesen Papierfetzen faltete Maren so gut wie möglich den steinharten Taschentuchklumpen auseinander, um sich notdürftig die Nase zu putzen und die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
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