Tröstend und hilflos zugleich lege ich meinen Arm um ihre Schultern und drückte sie fest an mich. Meine Wange berührt ihr volles, rotes Haar, ihr Markenzeichen, während sie neben mir bebt. Ich schweige, bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hat und gebe ihr den einzig vernünftigen Rat, auch wenn sie sicher etwas anderes von mir erwartet.
„Du musst es ihm sagen. Spätestens nachdem du bei einem Arzt warst. Lass es dir bestätigen, lass dich untersuchen und gewöhne dich erst einmal selbst an diese Umstellung. Aber warte nicht zu lange, Jeffrey sollte sehr bald wissen, was los ist. Schließlich betrifft es auch ihn.“ Blanke Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Wenn du möchtest, kannst du mich über deinen Arzttermin informieren, dann versuche ich mir einen halben Tag frei zu nehmen und begleite dich, hm?“ Alles, was Rachel zustande bringt, ist ein trauriges Nicken. Langsam trinkt sie ihr Wasser leer und schaut auf die Uhr.
„Ich sollte gehen, bevor Timothy nach Hause kommt. Bitte, Liz, sag ihm nichts. Noch nicht. Jeff soll es von mir erfahren, wenn ich so weit bin, ja?“ Ich nicke, auch wenn mir nicht ganz wohl ist bei dem Gedanken, ein Geheimnis vor Timothy zu haben. Diese Zeiten sind längst vorbei, mittlerweile gehen wir sehr offen miteinander um. Aber ihr zuliebe halte ich dicht. Ich bin mir sicher, Rachel wird es Jeff bald sagen. Seufzend begleite ich sie zur Tür, wo sie sich noch einmal in meine Arme sinken lässt und weitere Tränen krampfhaft unterdrückt.
„Danke, Liz. Wir telefonieren, ja?“
„Kein Problem, ich bin für dich da. Bitte ruf mich an, wenn du einen Termin beim Arzt vereinbart hast, ja? Und noch was: Mach dir nicht allzu viele Gedanken. Jeffrey wird sicher erst einmal geschockt sein, aber er kann es ohnehin nicht ändern. Mit ein wenig Zeit wird er sich sicher an den Gedanken gewöhnen. Versuch erst mal positiv zu denken, alles andere wird sich zeigen.“ Sie nickt traurig, ehe sie sich umdreht und geht. Nur wenig später, nachdem ich die Tür hinter Rachel geschlossen habe, kommt Timothy herein.
„Hallo, Schatz. Na, was wollte Rachel denn so Dringendes?“ Ich schlucke. Was soll ich ihm denn jetzt sagen?
„Ach, so dringend war es eigentlich gar nicht, aber sie musste scheinbar unbedingt mit jemandem reden. Sie möchte Jeff gerne überraschen, weil sie doch nun schon einige Wochen zusammenwohnen und sie das Gefühl hat, sich noch nicht richtig bei ihm bedankt zu haben.“ Ob Tim mir das abkauft? Mir ist ja nicht ganz wohl dabei ihn anzulügen, aber aus Rücksicht auf Rachel bleibt mir derzeit nichts anderes übrig.
„Ah, na dann. Keine Sorge, ich werde nichts verraten“, lässt er mich mit einem Augenzwinkern wissen. Dann fährt er fort: „Ich habe übrigens schon auf dem Weg hierher Pizza bestellt. Dürfte jeden Augenblick kommen.“ Pizza, ganz toll. Ich hoffe, dass er nicht auf die Idee gekommen ist, eine Thunfischpizza zu bestellen. Wie sich herausstellt, hat Tim brav eine ganz normale Salamipizza bestellt, die wir uns gemütlich vor dem Fernseher teilen. Und während ich mir ein Stück nach dem anderen nehme, frage ich mich, ob sich für Rachel wirklich bald alles zum Guten wenden wird.
Vorbereitung
Wie bereitet man sich auf ein Gespräch vor, dessen Inhalt alles in Frage stellen könnte, obwohl das Geschehene seit langem in der Vergangenheit verborgen liegt? Die Sache ist eigentlich schon lange erledigt. Natürlich denke ich noch oft daran, sogar noch öfter, seit Rachel in mein Leben getreten ist. Ich könnte es für mich behalten, als mein ganz persönliches und innigstes Geheimnis, aber genau wie Timothy fände ich es einfach nicht richtig ihr gegenüber.
Also werde ich es ihr sagen.
Nicht heute, aber bald. Sehr bald. Auch wenn ich in Kauf nehmen muss, dass Rachel danach ein völlig anderes Bild von mir haben, mich vielleicht sogar hassen oder sich vor mir fürchten wird. Vielleicht mache ich mir auch einfach zu viele Gedanken über die ganze Sache. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gespräch nichts an ihren Gefühlen für mich ändern wird. Wer weiß, vielleicht hat sie am Ende sogar Mitleid mit mir. Schließlich musste ich damals einiges Schlimmes und Unangenehmes durchmachen. Wobei Mitleid das Letzte ist, was ich möchte. Ich wünsche mir nur, dass sie das Vergangene zur Kenntnis nimmt, dass sie es als Teil meines bisherigen Lebens ansieht und meine Offenheit zu schätzen weiß. Mehr will ich gar nicht. Aber manchmal ist auch das schon zu viel.
„Hey, alles klar?“ Rachel und ich haben es uns auf dem Sofa bequem gemacht. Ich habe sie wirklich gerne bei mir, aber seit einigen Tagen habe ich plötzlich das Gefühl, dass sie sich nicht ganz wohl fühlt bei mir. Ob sie glaubt, einen Fehler gemacht zu haben, als sie hier einzog?
„Ja. Ach, morgen früh fahre ich erst später los. Ich habe den Tag frei genommen. Hab einen Termin beim Arzt.“
„Oh, ich hoffe, nichts Schlimmes?“ Vielleicht geht es ihr körperlich nicht so gut? Sie wirkt müde und gestresst.
„Nein, alles okay. Nur eine ganz normale Untersuchung aber der Arzt hat so wenige Termine frei, dass ich einen für vormittags nehmen musste.“ Sie zuckt entschuldigend mit den Schultern und wirkt ganz gelassen. Trotzdem mache ich mir Sorgen um sie.
„Okay. Rufst du mich an, wenn du beim Arzt warst? Nur zur Sicherheit. Ich bin morgen den ganzen Tag in der Kanzlei.“
„Ja, mach ich.“ Um ihrem Versprechen Nachdruck zu verleihen, drückt sie mir einen schnellen Kuss auf die Lippen. Dann steht sie auf. „Ich bin müde und gehe schlafen. Bleibst du noch lange auf?“ Verwundert schaue ich sie an.
„Nein, ich komme gleich nach.“
Bevor auch ich ins Bett gehe, beschließe ich, mein Gespräch noch etwas aufzuschieben, bis ich sicher sein kann, dass es Rachel wieder bessergeht.
Zwischen Liebe und Angst
„Danke, dass du mich abholst.“ Ich drücke Liz einen schnellen Kuss auf die Wange, bevor ich den Gurt ihres Beifahrersitzes zur Hand nehme.
„Kein Problem. Ich kann mir gut vorstellen, dass du heute Probleme mit dem Fahren gehabt hättest,“ gibt sie leicht amüsiert zurück.
„Das stimmt wohl. Ich meine, es deutet ja auch alles darauf hin, dass es wirklich so ist.“ Ich muss mich nicht deutlicher ausdrücken, damit Liz versteht, was ich meine.
„Und selbst wenn, das schaffen wir schon.“ Wir. Es tut gut, sie an meiner Seite zu wissen und ich bin mehr als froh, dass sie mir nicht nur heute beisteht.
„Was hast du eigentlich Tim gesagt?“ Liz konzentriert sich auf den Verkehr und zuckt mit den Schultern.
„Nichts. Nur, dass ich mir heute freigenommen habe und ich vorhabe, in die Stadt zu fahren. Hast du heute komplett frei?“ Ich nicke. „Gut. Dann würde ich sagen, wir machen uns nach dem Termin einen schönen Tag.“ Ich wünschte, ich hätte ihren Optimismus. Für Liz sieht immer alles so einfach und unbeschwert aus, kein Problem, das nicht gelöst werden könnte, immer mit der Aussicht, dass alles wieder gut wird. Wer weiß, vielleicht kann auch ich eines Tages so denken wie sie.
Nach einer viertel Stunde Fahrt, in der ich sehr schweigsam war, kommen wir an. Wir halten auf dem kleinen Parkplatz vor der Praxis, mein Herz hämmert in meiner Brust und vermutlich noch ein weiteres in meinem Unterleib. Gerade lege ich die Hand an den Hebel der Tür, als Liz mich sanft am Arm berührt.
„Keine Angst. Ich bin bei dir.“ Ich seufze, nicke und steige aus. Als hätte ich es eilig, laufe ich die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf und stehe kurz darauf an der Anmeldung.
„Foster mein Name, ich habe einen Termin.“ Die Gehilfin nimmt mein Krankenkärtchen entgegen, welches sie mir Sekunden später schon wieder in die Hand drückt und steht auf.
„Folgen Sie mir bitte ins Labor.“
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