Stephan Lake
Palmer :Shanghai Expats
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Impressum neobooks
Eigentlich wieder viel zu heiß heute, um hier zu stehen , dachte der Deutsche, sein Jackett mit weit ausholender Bewegung über den Arm werfend, aber was für ein herrlicher, herrlicher Tag .
Und dann lockerte er sogar die Krawatte und reckte den Hals und öffnete den obersten Knopf seines maßgeschneiderten Hemdes. Tolle Qualität. Feinste Stretchbaumwolle. Gleich fünf hat er sich davon im Stoffmarkt machen lassen und weniger als einhundert Euro bezahlt.
Ah, er schwitzte. Shanghai im Sommer. Über vierzig Grad, der sechste Tag in Folge.
Trotzdem verbrachten sie auch heute wieder eine viertel Stunde im Freien. Der Vorschlag war von ihm gekommen, vor drei Wochen bereits. Einige Minuten am Tag mussten drin sein, einige Minuten nicht in diesem dunklen, heruntergekühlten Büro sondern draußen. Licht tanken, der Haut die Möglichkeit geben, das wertvolle Vitamin D zu bilden und vor allem etwas für den Zusammenhalt des Teams tun.
Der Deutsche schaute nach oben. Der Himmel klar, wie selten in dieser Stadt. Vorhin erst hatte er die Luftwerte nachgelesen, weniger als sechzig, ein traumhafter Wert im Sommer. In Peking über dreihundert, das hatte er auch gelesen. Seine alten Kollegen würden wieder Mundschutz tragen und darunter schwitzen und kaum atmen können.
Arme Schweine .
Bonding, hatte der Chef gesagt, Bonding ist das Wichtigste für mich.
Für mich hat er gesagt, nicht für uns . Und so jemand war sein Chef ...
Dann hatte sein Chef die neuen Arbeitsteams zusammengewürfelt, ohne nachzudenken, ob’s passte, fachlich und persönlich. Die drei Chinesinnen, die, wie immer, wenn sie draußen waren, jetzt auch eine Hand über den Kopf hielten wegen der Sonne, als ob das irgendetwas nutzte; er konnte sich ihre Namen nicht merken. Die eine Samantha? Vielleicht. Dann Joanna aus London, die Amerikaner Sam und Will. Und eben er. Er hatte sofort diesen Vorschlag gemacht, und seine neuen Kollegen hatten ohne zu zögern zugestimmt.
Schlanke Hierarchien, my ass. I am thee boss .
Er widerstand dem Drang, seine Hand zur Faust zu ballen.
Draußen stehen in dieser Hitze, das machte keines der anderen Teams, das machten nur sie. Die Glorreichen Sieben wurden sie bereits genannt, schon etwas spöttisch, ja klar, aber egal. Es war ihr Markenzeichen geworden, und das war sein Verdienst; Branding, ebenso wichtig wie Bonding. Und das Herumstehen hier draußen würde sich irgendwann auszahlen, da war er sicher. Vielleicht schon beim nächsten Projekt. Vielleicht ein Projekt mit größerem Budget, mehr Verantwortung, vielleicht würden sie direkt an den Vorstand berichten; das wäre dann natürlich sein Job. Hey, gebt das den Glorreichen Sieben – ah, das wär’s.
Aber das Beste war seine zweite Einnahmequelle. Und er hatte ihnen ein Ultimatum gestellt: Entweder mehr bezahlen oder keine Infos mehr.
Er hatte keinen Zweifel, wie sie sich entscheiden würden.
Endlich würde er richtiges Geld verdienen. Mehr Geld, als er je in seinem Job verdienen könnte. Viel, viel mehr. Er würde in Singapur investieren und eine Wohnung in Hong Kong kaufen und dann mal sehen, was noch alles möglich war.
Der Deutsche beobachtete, wie sich die anderen unterhielten, lachten, immer wieder zu ihm hinsahen. Sie hatten keine Ahnung.
Er schaute wieder in den wolkenlosen Himmel, verdammt zufrieden mit sich und mit der Welt.
Er schaute nicht hinter sich.
Kann es noch besser kommen?, dachte er, als der Schlag ihm den Schädel brach.
Ohne einen Laut sackte er auf den heißen Asphalt.
Den zweiten Schlag spürte er bereits nicht mehr.
Auch nicht den dritten.
Nicht den vierten.
Beim fünften Schlag war er tot.
Police ID 033495.
Palmer stand immer noch vor dem Schalter mit der Scheibe aus Sicherheitsglas, der Hagere saß immer noch dahinter. Und blätterte kopfschüttelnd durch den stempellosen Reisepass.
Das Gesicht eingefallen, der Schädel kahlrasiert, an den fleischlosen Armen zuckten Elle und Speiche. Hager eben.
Ausgezehrt.
Ausge trocknet .
Verwelkt ...
Palmers Gedanken wanderten. Er hatte dreizehn Stunden Flug hinter sich.
Dreizehn Stunden Flug wegen eines alten Chinesen.
Ich habe gehört, Palmer, du bist auf der Suche nach mir .
Palmer legte den Daumen an den Hals – neun Schläge in zehn Sekunden. Achtundvierzig pro Minute. Er dachte nach, aber er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal angespannt war oder gar aufgeregt. Zu lange.
Palmer warf einen Blick auf die beiden Uniformierten, die in ihrer Kabine fünf Meter hinter dem Hageren saßen und die Ankommenden musterten. So, wie sie das vor wenigen Minuten auch bei ihm getan hatten. Supervisor stand auf ihren Schildern.
Jetzt beachteten sie ihn nicht mehr.
Der Hagere blätterte weiter und starrte weiter auf leere Seiten. Blaue Adern an den Armen, den Händen, den langen, dünnen Fingern; die Kuppen gelblich verfärbt. Raucherhände. Der Hals nur Sehnen und Haut, der Kopf darauf schwankte wie ein Kran hoch oben auf einem Hochhaus in Pudong. An dem dunklen Uniformhemd mit kurzen Ärmeln, über der linken Brust, sein Anstecker mit der polizeilichen Dienstnummer. Bedeutete die Nummer, dass es in dieser Stadt 33.495 Polizisten gab? Oder mehr?
Konnte sein. Die Stadt war groß. Vierundzwanzig Millionen Menschen, vielleicht noch mehr, wer wusste das schon so genau. Da brauchte es viele Polizisten.
Elle und Speiche zuckten ohne Unterlass.
Soweit, kein Stempel im Pass. Nicht ein einziger. Auch kein Einreisevisum für dieses Land. Pudong, der Stadtteil, in dem auch dieser Flughafen lag, dürfte er demnach gar nicht kennen.
Der Hagere sah zu ihm hoch. Der Blick huschte über die Schramme über seinem rechten Auge.
Palmer lächelte.
Der Hagere nicht. Der schaute wieder nach unten, nahm erneut Palmers Ticket nach Manila, Weiterflug in drei Tagen, legte das Ticket hin und nahm wieder den Pass und blätterte weiter.
Das Ticket musste sein, sonst hätte Palmer hier nicht landen dürfen. Und Manila war für diesen Zweck ein so guter Ort wie jeder andere.
Auch trug er eine billige Reisetasche bei sich mit allerlei nutzlosem Zeug. Die Tasche musste ebenfalls sein; ohne Tasche reisen war heutzutage auffällig.
Auf dem Schalter links vor dem Sicherheitsglas ein Monitor. Der Bildschirm ohne Informationen, blank. Rechts eine kleine Box, mit der Aufforderung, die Arbeit von 033495 zu bewerten. Vier Smileys, von strahlend und sehr zufriedenstellend bis missmutig und überhaupt nicht zufriedenstellend. Der Reisende hatte die Wahl. Sobald das Licht an der Box leuchtete, konnte er seine Bewertung abgeben. Doch zuvor mussten Informationen über ihn auf dem Monitor erscheinen.
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