„Sie ist dort hinten, kommen Sie“, sagte Rivierie und ging voran. Die drei erreichten einen der Stellräume, vor dem ein Mann stand, der den Eindruck machte, als wäre er jetzt am liebsten ganz weit weg. In seinen Händen hielt er eine schwarze Seemannsmütze, die er sich vor die Latzhose hielt. Wohl aus Respekt vor der Toten. Sein Gesicht war kerbig, die Haut an seinen Armen von vielen Jahren auf hoher See rau und furchig.
„Das ist Herr Faison, er ist der Hausmeister des Gebäudes.“
Der Hausmeister nickte und zeigte auf die Leiche. „Hab sie so gefunden. Hing da wie ein Stück Fleisch zum Trocknen. Jemand hat sie schlimm zugerichtet, ganz schlimm.“ Er trat unruhig auf der Stelle hin und her.
Milten war klar, dass er sich nicht allzu wohl fühlte und mit einem Blick auf die Leiche wurde ihm auch klar, was Percy und er schon vermutet hatten.
Die Tote war Vanessa May. Die Bürgermeisterin von Sharpytown, die ihnen bei ihrem ersten gemeinsamen Fall begegnet war.
Ihr Körper war in den Keller gespannt wie ein groteskes Kunstwerk. Die Arme waren an den Gitterstäben befestigt und hingen in der Luft. Die Beine, jedenfalls das eine, das noch dran war, zeigte mit den Zehen nach hinten. Das Gelenk musste um 180 Grad gedreht worden sein, und zwar mit enormem Kraftaufwand. Der gesamte Körper war übersät von Stichwunden und ihr pinkes Oberteil hatte man abgeschnitten. Ihre Brüste waren in Blut getränkt worden. Die Haare mit getrocknetem Blut nach hinten gekämmt. Jemand hatte sich Mühe gegeben, sie genau so herzurichten. Aber das Schlimmste war der Ausdruck in ihrem Gesicht. Ihr Mund stand offen, irgendetwas steckte darin fest und ihre Augen starrten Milten und Percy an. Ihr Blick winselte noch immer um einen schnellen Tod, den sie wohl nicht erhalten hatte.
In ihrer Brust steckte ein Messer. Und hinter ihr, in großen Buchstaben, hatte jemand den Namen „Booktian“ an die Wand geschmiert. Das Blut der Schrift war an der Wand heruntergelaufen und getrocknet.
„Herr ...“, setzte Percy an, doch der Anblick der toten Vanessa schaltete sein Kurzzeitgedächtnis aus.
„Faison, Nelson Faison.“
„Herr Faison, wem gehört dieser Keller?“
„Sonia Kealy, hab sie schon ’ne ganze Weile nicht mehr gesehen. Ist viel unterwegs. Sie arbeitet als Taxifahrerin.“
„Sonia Kealy?“, wiederholte Milten. „Das ist doch die Frau, die ich gestern Abend erschossen habe.“
„Na, das wäre dann ja mal schnell geklärt“, sagte Percy. „Wir warten auf die Fingerabdrücke aus dem Labor. Wenn alles übereinstimmt, können wir diesen Fall wohl gleich ins große Archiv des Servers schicken.“
„Was steckt in ihrem Mund?“, fragte Milten und löste das Polizeiabsperrband vor dem Kellereingang. Das Band wurde grundsätzlich angebracht, um Neugierige vom Tatort fernzuhalten, die sonst wichtige Spuren verwischen würden.
Milten zog ein paar Plastikhandschuhe aus seiner Weste, streifte sie über und drückte Vanessa Mays Mund nach unten. Dabei achtete er darauf, nicht in die Lache aus Körperflüssigkeiten zu treten, die sich unter ihr angesammelt hatte.
„Kennt ihr die etwa?“, fragte der junge Polizist.
„Das ist Vanessa May. Sie war Bürgermeisterin in einer sehr angenehmen Stadt namens Sharpytown. Ich wusste, dass man sie aus der Stadt vertrieben hat, das war auch kein Wunder. Sie hat so einiges verdient, aber das hier“, sagte Percy und zeigte auf den Leichnam, „das hier ganz bestimmt nicht. Sie muss schreckliche Qualen gelitten haben.“
„Vanessa hat etwas im Mund, das aussieht wie eine Zeitschrift“, bemerkte Milten. „Man hat es zusammengerollt und ihr bis in den Hals gestopft.“
„Zieh es raus, ich glaube nicht, dass wir hier allzu großes Rätselraten betreiben müssen.“
Milten fasste das eine Ende des Magazins, das nicht von Blut und Speichel aufgelöst war und zog es aus dem Rachen. Dann entrollte er das Magazin, das sich als Buch entpuppte.
„Es ist ein Softcover-Buch.“
„Wie lautet der Titel?“
„Der kleine Schnitzelbär – Was sind Träume?“
„Was?“, sagte Percy entgeistert. „Das kann nicht sein.“
„Doch. Von Florian C. Booktian. Tz, der Typ hat seine Bücher wirklich überall rumliegen.“
„Er ist recht berühmt“, sagte Rivierie. „Ich lese gerade selbst eines, der erste Teil seiner zweiten Farbenwochen-Heptalogie. Die Bücher sind gut, sie handeln von ...“
„Danke, das wäre alles“, würgte Percy den jungen Polizisten ab. „Bitte gehen Sie wieder nach oben und halten Sie nach der Spurensicherung Ausschau.“
„Natürlich“, sagte Rivierie und ging davon.
Milten blätterte das Buch durch. Auf jeder Seite waren farbige Bilder und dazwischen etwas Text. „Ein Bilderbuch“, sagte Milten, „wieso würde eine erwachsene Frau so etwas lesen?“
„Wer kann schon sagen, was in den Köpfen der Leute vorgeht. Aber das Buch kenne ich, das hat mir schon meine Mama immer vorgelesen. Es handelt von zwei Bären, die herausfinden wollen, was Träume sind.“
Milten überlegte. „Meinst du, das ist so eine Sache, wo irgendein Fan, der die Schwelle zwischen Realität und Fantasie nicht mehr unterscheiden kann, durchgedreht ist und irgendeine Mordserie aus einem Buch nachahmt? Sein Name steht groß an der Wand. Möglich, dass er in Gefahr schwebt, das nächste Opfer zu werden.“
„Wenn es Sonia war, hast du sie auf jeden Fall schon aus dem Weg geschafft. Wäre das dann überhaupt noch so wichtig?“
Milten war es wichtig, denn das Warum war für ihn genauso wichtig wie das Wie. Er wollte wissen, was die Verbrecher antrieb, denen sie auf der Spur waren. Seiner Erfahrung nach konnte man jeden missratenen Trieb, jede Neigung zur Gewalt auf irgendetwas im Täter zurückführen, der die Straftat begangen hatte. Und die Ursache zu bekämpfen war wichtig. Auch wenn es oft unmöglich war. Aber dann konnte er zumindest einen ausführlichen Bericht schreiben und der würde vielleicht irgendwann helfen vorzubeugen und andere Ermittlungen zu beschleunigen.
„Ich glaub, ich spinne, spielst du da etwa an meinem Arbeitsplatz rum?“, rief ein Mann, der in einem weißen Ganzkörperoverall steckte. Mit schnellen Schritten kam er auf seinen gelben Gummistiefeln näher.
„Will Fleisher“, sagte Percy und steckte die Hände in die Hosentasche, „wie geht es dir, du alter Ganove?“
„Gleich besser, wenn du deinem schicken Partner sagst, er soll seine Hände von meinem Tatort lassen.“
Percy drehte sich zu Milten. „Partner, du sollst deine Hände von seinem schicken Tatort lassen.“
Der Erfinder stieg vorsichtig aus dem Keller, das Bilderbuch noch immer in der Hand und verpackte es in einen Plastikbeutel.
„Was hast du denn da?“, fragte Will. „Klaust du wieder Beweismittel?“ Er verrenkte sich den Kopf, um den Titel des Buches lesen zu können.
„Ja leck mich doch! Der Schnitzelbär, och das Buch ist aber süß. Ist das deine persönliche Ausgabe? Hast du dich gleich mal auf andere Gedanken bringen müssen, als du die böse tote Frau gesehen hast, Milty?“ Will lästerte gerne und ausgiebig und Milten stand dabei im Mittelpunkt.
„Das ist ein Beweisstück, hier“, sagte er und reichte Will Fleisher das Buch.
„Danke, Milty, ich hab jetzt leider keinen Lutscher dabei, du musst mir also versprechen, dass du nicht anfängst zu heulen, weil der Onkel Will dein Spielzeug mitnimmt, versprichst du das, Milty, ja? Versprichst du es?“
„Kann ich gehen?“, fragte der Hausmeister hinter ihnen.
„Aber natürlich“, sagte Milten und geleitete den Mann davon, die perfekte Gelegenheit, sich aus der Situation zu stehlen.
„Was musst du immer so an ihm herumpicken“, sagte Percy. „Er ist emotional instabil, da brauch ich nicht auch noch deinen Schwabbelhintern, der ihm Mist ins Ohr flüstert.“
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