Da ergriff Dio seine Chance. Er spannte seine Muskeln an, sprang und landete auf der rechten Schulter des alten Mannes. Der geriet kurz aus dem Gleichgewicht, dann begann er zu lachen.
„So war das nicht gedacht!“ Mit einer Hand stützte er sich an der Wand ab, mit der anderen hielt er den Kater fest, damit dieser nicht abstürzte. Dionysos rieb seine Wange an der seines Menschen.
„Na gut, wenn du meinst“, seufzte der alte Mann. Ächzend erhob er sich und hielt dabei seinen Kater fest. „Aber falle mir bloß nicht herunter!“
Damit war Dio einverstanden. Er streckte sich lang aus, bis er wie ein dicker Fellschal aussah, der von einer Schulter des Professors bis zur anderen reichte.
Als der Mann die Haustür öffnete, wehte dem Kater ein eisiger Luftzug um die Ohren. Er verzog das Gesicht. Wie hatte sein Mensch ernsthaft vorschlagen können, er solle dort hinausmarschieren? Nein, da war diese Lösung doch viel besser.
Der Professor stapfte los, und Dio krallte sich an dessen dicker Jacke fest. Er zog den Kopf ein und plusterte sein Fell auf.
Sie verließen das Dorf, hielten erst auf den nahen Waldrand zu und bogen dann in einen Feldweg ab, der zwischen verschneiten Wiesen hindurchführte. Außer ihnen war dort niemand zu sehen. Das wunderte Dio nicht. Die anderen Leute waren eben viel vernünftiger.
Nachdem sie eine Weile unterwegs waren, hatte Dio von diesem Ausflug die Nase gestrichen voll. Von der Herumschaukelei auf den Menschenschultern war ihm schlecht. Seine Füße hatte er anfangs zwar einigermaßen trocken- und warmhalten können, jetzt waren sie das nicht mehr. Und diese weißen Kristalle schossen immer aggressiver in sein Gesicht, so dass er die Augen zukneifen musste. Doch das war noch nicht das Unangenehmste. Die Schneeflocken deckten ihn zu wie ein weißer Pelz. Und durch seine Körperwärme begann dieser Pelz, allmählich in seine Unterwolle hinein zu schmelzen. Er fror.
Dio überlegte gerade, wie er seinem Menschen klarmachen konnte, dass es seiner Meinung nach jetzt Zeit für den Heimweg war, als der Professor plötzlich aufschrie. Der Kater kreischte, dann rumpelte es. Einen Moment später lag er im Schnee.
Entsetzt schüttelte Dionysos das nasse Zeug von sich ab. Der Schnee hatte seinen Sturz ein wenig abgefedert. Dafür war er ihm jetzt sogar dankbar. Doch was war passiert? Wo war der Professor? Hektisch drehte Dio sich einmal um seine eigene Achse, und dann sah er ihn. Der alte Mann lag ein Stück entfernt regungslos am Boden.
Der Kater sprang auf ihn zu, umrundete ihn und stupste ihn an. Aber der Professor rührte sich nicht. Er sah aus, als würde er schlafen. Doch seine Augen waren nicht geschlossen. Sie starrten eigenartig leer und abwesend nach oben. Nein, schlafen tat sein Mensch nicht. Aber wach war er auch nicht. Dionysos schlich um den Kopf des Mannes herum. Da sah er, dass die graue Wollmütze verrutscht war und sich am Rand rot verfärbte. Jetzt bekam Dionysos Angst. Genauso hatte es damals bei Alesa ausgesehen, als sie schwer verletzt worden war. Was sollte er bloß tun?
Aus einem Instinkt heraus begann er, das Blut abzulecken. Aber als er sah, dass das nichts half und immer wieder neues nachlief, hörte er damit auf. Nein, das war jetzt nicht das Richtige. Aber was dann? Was sollte er bloß tun? Er musste Hilfe holen!
Verzweifelt blickte er sich um. Weit und breit war niemand unterwegs. Oder doch? Er zwickte die Augen zusammen. Da vorn war jemand. Ein junger Mann, und er kam bereits in ihre Richtung. Er musste sie gesehen haben.
Jetzt begann der Fremde, die letzten Schritte zu rennen. Als er sie erreicht hatte, beugte er sich über den Professor, schüttelte ihn und rief ihn an. Doch der Alte gab keinen Laut von sich. Da holte der Fremde ein schmales glänzendes Brettchen aus seiner Jackentasche, tippte darauf herum und hielt es sich ans Ohr.
Einen Augenblick später redete er mit irgendjemand, aber Dionysos konnte vor lauter Angst nicht verstehen, was er sagte. Sein Professor lag hier und rührte sich nicht mehr!
Verzweifelt drängte Dio sich an seinen Menschen. Der fühlte sich so kalt an! Und wenn er noch lange hier herumlag, würde er nie wieder warm werden. Wieso hatte der Professor heute bei diesem Mistwetter nur hier herumlaufen müssen? Und warum hatte er, Dionysos, sich von der Aussicht auf ein Leckerchen dazu bestechen lassen, mitzukommen? Anstatt den Professor zum Daheimbleiben zu bewegen. Dann wäre das nicht passiert!
Immer enger kuschelte er sich an seinen Menschen. Er schnurrte, um sich selbst zu trösten. Und vielleicht konnte es der Professor ja spüren. Vielleicht konnte es irgendwie helfen. Dio spürte, wie sich der fremde Mann neben ihn hockte und sanft über sein Fell strich. „Es wird schon alles wieder gut werden“, hörten seine Ohren. O wenn es nur so wäre!
Auf einmal durchbrach ein lauter werdendes Motorengeräusch die bedrückende Stille. Dio hob den Kopf und sah eine dieser Stinkekisten, die die Menschen benutzten, um irgendwo hinzufahren. Diese Kiste, die sich gerade näherte, war größer als die seines Professors. Und lauter. Dio bekam es so sehr mit der Angst, dass er ein paar Schritte zurückwich, auch wenn er seinen Menschen eigentlich nicht allein lassen wollte.
Jetzt sprangen zwei Fremde aus dem Gefährt und liefen heran. Der junge Mann, der ihnen zu Hilfe gekommen war, sprach mit den beiden. Dann wuselten sie geschäftig um den alten Mann herum. Sie luden ein seltsames Gestell aus dem Wagen, wuchteten den Professor darauf und schoben alles zusammen wieder hinein. Dann stiegen sie ein, starteten den Motor, und noch bevor Dio begriff, was da vor sich ging, fuhren sie auch schon davon. Mitsamt seinem Professor.
Mit einem lauten „Mau!“ sprang er dem Wagen ein paar Sätze hinterher. Aber schnell wurde ihm klar, dass er ihn nicht einholen konnte.
Als er entsetzt stehen blieb, bemerkte er, dass der junge Mann ihm nachgelaufen war. Nun hockte er sich hin und sprach beruhigend auf den Kater ein. „Hab keine Angst. Die Sanitäter bringen deinen Freund ins Krankenhaus. Dort kümmert man sich um ihn und er wird bald wieder gesund sein.“
Dio hörte diese Worte wie aus großer Entfernung. Er spürte, wie der Fremde ihm sanft über den Rücken streichelte. Danach stand der Mann auf und ließ ihn allein.
Harry war zusammen mit seinen beiden Freunden Tom und Fred bei ihrer gemeinsamen Jagd erfolgreich gewesen. Nun, da sie satt und mit sich zufrieden waren, stand ihnen der Sinn nach einem Abenteuer.
Übermütig, wie Kater, sich eben verhielten, die dem Kindesalter gerade entsprungen, aber gleichzeitig noch weit entfernt von erwachsener Vernunft waren, hatten sie vor allem Dummheiten im Kopf. Sie trieben sich gern auf dem Gelände der alten Dorfwirtschaft herum. Denn dort fiel immer wieder der ein oder andere Essensrest für sie ab. Außerdem lebte dort die stotternde Elsa.
Das Katzenmädchen war etwa gleichaltrig mit den jungen Katern. Harry fand, dass sie ganz gut aussah mit ihrem grau getigerten Fell. Wenn sie nur nicht so sehr stottern würde. Sobald sie etwas sagte, musste er unwillkürlich zu lachen anfangen.
Fred und Tom zogen sie deswegen gern auf. Außerdem machte es ihnen ein höllisches Vergnügen, ihr aufzulauern und schlechte Scherze mit ihr zu treiben. Harry ging das manchmal zu weit. Aber er wollte vor seinen Freunden nicht als Schwächling dastehen. Im Gegenteil. Er nutzte jede Gelegenheit, um ihnen zu zeigen, dass er nicht so schwach und ängstlich war wie sein eigener Vater. Harry schämte sich für ihn. Er wollte auf keinen Fall so werden, wie er.
Gerade hatte es sie wieder einmal zum Wirtshaus gezogen. Fred und Tom hatten gesagt, sie wollten nur mal nachsehen, ob Elsa zu Hause war. Und tatsächlich trabte das Katzenmädchen gerade nichtsahnend über den Hof.
„Na, wen haben wir denn da?“ Fred stellte sich ihr breitbeinig in den Weg. Sofort gesellte sich Tom zu ihm. Die beiden schwarzfelligen Brüder, die einander fast zum Verwechseln ähnlich sahen, drängten sie ein Stück zurück. „Wo willst du denn hin?“
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