Diese Aussage beinhaltet, dass N sich ranhalten musste, um leistungsmäßig mit den Kameraden mitzuhaltet und auch zu verstehen gab, dass sich bei dem 12-Jährigen nichts rundum Genialisches zeigte.
Am 3. April starb die Großmutter Erdmuthe N. In den erhalten gebliebenen Briefen von und an den elfeinhalbjährigen N blieb ihr Tod ohne Niederschlag. Von nun an konnte Ns Mutter Franziska - endlich! - die „Führung“ ihrer kleinen Familie in Übereinstimmung mit dem Vormund der Kinder mutig und umsichtig nach eigenen Vorstellungen bestimmten. Die noch verbliebene Tante Rosalie zog bei dieser Gelegenheit in eine eigene Wohnung.
Im Sommer wurde N vom Domgymnasium wegen Kopf und Augenschmerzen beurlaubt. Sie müssen recht erheblich gewesen sein, wurden aber, wie häuslich üblich, nur mit Hausmitteln, Wasserkuren, Umschlägen, Ruhe und - von daher lebenslang so angewandt! - mit beruhigendem und gesittetem Spazierengehen „behandelt“.
Ende August schrieb N von einem Verwandtenbesuch (mütterlicherseits) in Altschönefeld bei Leipzig, knapp 70 km entfernt, an die Mutter in Naumburg:
Noch hätte ich Dir mitzuteilen, dass die Tanten nur [einige nicht lesbare Worte] mir geraten, wegen der schlechten Augen [unleserlich: etwas?] Kornbranntwein oben über den Augen täglich [unleserlich: einzureiben?] Sage Deine Meinung dazu. (13)
Dabei dürfte es sich um frühe Auswirkungen der Veranlagung gehandelt haben, immer wieder mal, schubweise, unter ziemlich starken Kopfschmerzen zu leiden. Der Vater hatte darunter gelegentlich auch, aber nicht in diesem Ausmaß, gelitten. Im Alter von knapp zwölf Jahren begann N nachweislich an dieser Art beurlaubenswerten Zuständen zu kränkeln und sogar schwer zu leiden - je länger, umso stärker und problematischer werdend - bis schließlich zum Brechreiz und endlosem Galle-Erbrechen, was trotz diverser, meist auf Hausmittelchen beruhenden Gegenmaßnahmen, selbst unter ärztlicher Begutachtung, von seiner Ursache her ungeklärt und damit auch, sofern es damals dazu überhaupt Erkenntnisse gab, gezielt unbehandelt blieb und im Lauf der Jahre mit wechselnder Regelmäßigkeit in vollkommen unberechenbarer und oft auf kaum mehr erträgliche Weise auftreten sollte. Bei diesem ersten vermerkten Mal wurde er für den Rest des Semesters, bis Ende September also, vom Schulbesuch befreit und glaubte sich mit einsamem stundenlangem Spazierengehen - was zu einer Lebensgewohnheit wurde! - und Klavierspielen kurieren zu können; - immer von neuem in der Hoffnung, dass der Heilerfolg daraus jeweils für immer gelte und endgültig sei.
Außerdem litt N an Aufregungszuständen und wohl auch, wie sein Vater schon, an stillen Momenten innerlichem „Wo-anders-sein“, was fraglos mit - allerdings nicht direkt, aber doch, als etwas anderes wahrgenommenen und auch benannten ! - „Erlebnissen“ währenddessen verbunden war. - Er „litt“ auch - sehr undistanziert zu sich selbst! - an der bereits erwähnten Neigung, nur das als für wirklich wahr und richtig zu halten, was ihm , vor allem auf sein persönliches Gefühl und Dafürhalten gegründet, nach dem Urteil seines eigenen, wenig selbstkritischen Wertens entsprach und daran , diese Gültigkeit als gleichsam objektive Wahrheit in gefährlicher Ausschließlichkeit immer und in allem unkritisch auf andere, das heißt auf die außerhalb seiner selbst „autistisch gefühlsblind“ wahrgenommene und bestehende Welt, zu übertragen! Noch blieb allerdings all dies von der starken Prägung durch seine Umwelt verdeckt. Es fiel nicht besorgniserregend auf, kam eigentlich noch nicht in Betracht, war aber bereits vorhanden .
In ungefähr diese Zeit würde - wenn es denn tatsächlich stattgefunden haben sollte! - ein Ereignis gehören, das N in späteren Jahren - im „Frühling bis Sommer 1878“ - also 22 Jahre später erst rückblickend - angeblich erinnernd! - notierte:
Er habe „Als Kind Gott im Glanze gesehen“. - 8.505- Der offizielle Kommentar zur kritischen N-Ausgabe weiß dazu nichts Klärendes beizutragen; - wohl um sich, so oder so, nicht in zweifelhafte Nesseln zu setzen? - Hatte er nun? Hatte er nicht? Warum hat N das - und so spät erst? - aufgeschrieben ?
Diese „Erinnerung“ erweist sich - sollte sie denn, was eher zu bezweifeln wäre, echt gewesen sein! - in ihrer genauen Datierung als schwierig: „Als Kind“ kann für das Alter von etwa 6 bis maximal ungefähr 12 Jahren gelten. Für „davor“ und „danach“ würde der zumeist recht genau bezeichnende N wohl eher ein anderes Wort gewählt oder entsprechende Adjektive benutzt haben, um in seinen Angaben nicht zu ungenau zu erscheinen. Carl Albrecht Bernoulli (1868-1938), ein Baseler Freund von Ns späterem dortigen besten Freund Franz Overbeck - und durch diesen mit einem Zugang zu einer N-Quelle „aus erster Hand“ versehen - behauptete in seinen sehr frühen Angaben zu Ns Leben in Bezug auf seine enge Freundschaft mit Franz Overbeck - und zu einer Zeit vor 1908, da er kaum eine Ahnung von Ns nachgelassener Notiz haben konnte! - N hätte diese „Erscheinung“ „mit 12 Jahren“ B2.179gehabt. Das ergab sich wohl aus einem mündlichen Hinweis Overbecks, dem N dergleichen demnach erzählt haben müsste, was durchaus vorstellbar, aber nicht verbürgt ist, - nämlich dass es das Ereignis tatsächlich gegeben hat. N gab zu dieser sehr spät als Tatsache dargestellten „Erscheinung“ in seiner Notiz kein genaueres eigenes Alter an. Er stellte damit - wie er das zu vielen Plänen tat, wenn er über bestimmte „Themen“ etwas stark aus der Reihe oder gar „Rolle“ Fallendes zu schreiben gedachte, in der Form von „Planungs-Entwürfen“ dar, - was er mit den direkt anschließend dazu den recht lästerhaften wirkenden Worten, - dabei im Frühjahr bis Sommer 1878 Erinnerung, Traum, Örtlichkeiten, Absicht und freie Phantasien durcheinanderwürfelnd, Stichworte zu einem gewagt ehrgeizig wirkenden Projekt ergibt, nämlich:
Erste philosophische Schrift [aber wieso „philosophisch“? - wo es doch lediglich um hochspekulative „Vorstellungen“ ging?] über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes). 8.505
Warum und wieso? Konnte N „sich selbst“ auch nur durch die Vorstellung einer auf die Gegensätze des Bestehenden versessenen Umwertungsexistenz „denken“? - Die „Logik“ dieses Schlusses ist ganz und gar eindeutig aus Ns eigenem Erleben und seiner auf sich selbst bezogenen Vor- und Darstellung geboren und bloße „Behauptung! - Selbstdarstellung wieder einmal. Seine Notiz fährt fort:
Schwermütiger Nachmittag [Fürwahr! Mit diesem Plan dürfte er 1878 seine derzeitige Gemütsverfassung beschrieben haben. Arbeiten tat er zu der Zeit an Folge-Aphorismen zu „Menschliches, Allzumenschliches“, vielleicht gar schon an Einfällen zu deren zweiter Fortsetzung, dem Teil „Der Wanderer und sein Schatten“. Darauf folgt dann noch:
- Gottesdienst in der Kapelle zu Pforta, ferne Orgeltöne [diese aber lagen zu der Zeit als er das niederschrieb auch schon - spätestens zur Zeit seines Abiturs im Jahr 1864! - und damit mindestens 14 Jahre zurück und waren also Erinnerungen an eine andere Zeit, als die fast doppelt so weit zurückliegende Zeit „als Kind“, wo er denn „Gott in seinem Glanze gesehen“ haben wollte oder gesehen zu haben meinte . Andrerseits war in 1878 zweimal in Naumburg und konnte von dort, was er oft tat, einen Besuch in Pforta gemacht haben! - Danach notierte er noch, als persönliche Rechtfertigung dafür, sich zum Autor dieses wahrhaften „Teufelsthemas“ machen zu dürfen :] Als Verwandter [und Abkömmling!] von Pfarrern früher Einblick in geistige und seelische Beschränktheit, Tüchtigkeit, Hochmut, Dekorum 8.505[also völlig befangen noch in der Vorstellung des ständischen „Herkommens“ zur Legitimation der Leistung seines sich selbständig und unabhängig gebärdenden „Seins“].
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