Oder sollte N das glaubensinhaltlich mit Blick schon auf Ostern und Pfingsten geschrieben haben?
1857
Das Kugellager wurde patentiert. Der seit längerem bereits geisteskranke König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen übergab die Regentschaft an seine Bruder Wilhelm I. In Frankreich erschienen von Charles Baudelaire die mit vielen Erotismen durchzogenen Gedichte „Die Blumen des Bösen“. Auf dem Gebiet der Meteorologie gelangen mit neukonstruierten Teleskopen nennenswerte Fortschritte.
Ns Schülerleben lief so dahin; gebunden an pfarrhausübliche Gläubigkeit und Gottesgegenwart. Die in jeder Jugend auf mehr oder weniger ähnliche Weise ablaufenden, völlig normalen Ereignisse zu erörtern ist nicht Sinn und Zweck dieser Zusammenstellung bedenkenswert kritischer Lebensmomente in Ns Entwicklung und Wesen. Die Anforderungen der Schule standen im Vordergrund. Da musste N sich fügen und anstrengen, um mitzuhalten zu können bei fraglos bestehender Konkurrenz. Beim Spiel war er, vor allem mit der Schwester, der „große Bruder“ und auch gegenüber den Freunden derjenige der die Richtung vorgab und bestimmte, wie was wann vonstatten zu gehen und zu gelten hatte. Die Sommerferien wurden üblicherweise bei den sehr beliebten Großeltern in Pobles, „auf dem Lande“ verbracht.
Am 10. August 1857 schrieb die Mutter Franziska aus dem von Naumburg gut 90 km entfernten, gewissermaßen „auf der anderen Seite von Leipzig“ liegenden Eilenburg, wo sie, auch im Pfarrberuf tätige N’sche Verwandten besuchte, an ihren inzwischen fast 13-jährigen Sohn, der noch bei seinen Großeltern dabei war, seine Ferien zu verbringen, eine Fülle von bedenklich detaillierten Verhaltensregeln, die in Ns erreichtem Alter und in einem seit Jahren gewohnten Umfeld eigentlich als selbstverständlich zu gelten haben mussten:
Mein lieber Fritz, eigentlich ist der Brief gleichzeitig an die guten Großeltern und lieben Geschwister gerichtet aber ich dachte doch dass es Dir besonderes Vergnügen gewähren würde ein Briefchen von Deiner Mama zu erhalten, die sich so sehnt, Dich, mein guter Fritz, wieder zu sehen und zu sprechen. Gott sei Dank dass Du Dich wohl befindest bei den geliebten Großeltern [dieser Stoßseufzer war wegen der so leicht prekären Gesundheitslage von N wohl angebracht! - aber vielleicht gab es da noch weitere Gründe?] wie ich gestern durch Rosalchens Brief [von einer Schwester seines Vaters] erfahren habe. Gebe Gott dass Du Dich auch so wohl befindest, wenn mein Brief ankommt und wenn Deine Mutter und Schwester in eigner Person in Naumburg ankommen. Bis dahin sei hübsch vorsichtig mit Deiner Gesundheit [um die es so leicht sehr wackelig stand] nimm hübsch den Regenschirm mit wenn es regnet und solltest Du je einmal nass geworden sein so ziehe Dich gleich wenn Du zu Hause kommst um, denn Du weißt dass es Dir allemal nicht gut bekommt. Deine Sachen liegen alle auf dem Bett am Schrank, für täglich ziehst Du Deine alte Jacke und leichten grauen Hosen die Du in Pobles mit hast nebst Weste an, ist es sehr kühl die dickeren grauen Hosen und Sonntags die guten nebst Kutte welche Du Dir von Frau Ludwig mit einem wollenen Läppchen und heißen Wasser darnach wie vorher gut gebürstet, reine machen lassen kannst; ist etwas Besonderes so hast Du Dein gutes Jäckchen und Weste am Sonntag, tagtäglich zu etwas besonderem nur die Kutte und lässt Dir von irgend Jemand noch einen Kragen einstecken oder hebest das Vorhemdchen was Du ja wohl mithast und Idachen [eine Schwester der Mutter, die nur 11 Jahre älter war als N] so gut sein will und Dir Deine Wäsche machen, dazu auf.
Diese Maßregeln, Mahnungen, Empfehlungen an einen fast 13-jährigen lässt hinsichtlich von Ns Selbständigkeit tief blicken, wird aber bei dem von seinem Wesen her sehr unselbständigen N für die Mutter gewohnheitsgemäß nötig gewesen sein und war nun schriftlich „nachzuholen“. Dadurch hatten sich zwangsläufig gewisse Mängel in Ns Selbstverwaltungsfähigkeiten aufgetan und die Mutter war in Sorge, diese ausgleichen zu wollen, - was eine dauerhaften „Überversorgung“ durch die Mutter offenbarte, - aber wohl nötig war, weil sie Ns Selbständigkeit beeinträchtigt fand. Sicher wurde der Brief von der Mutter geschrieben, um diese Unselbständigkeit Ns nicht sonderlich auffällig werden zu lassen.
Außerdem nimm so wenig als möglich Hilfe in Anspruch sowohl bei der guten Frau Pastorin [der Großmutter] als [nach der zum Schulbeginn notwendigen Rückkehr nach Naumburg] bei Rosalchen [die unverheiratete Tante, die jetzt in einer eigenen Wohnung in Naumburg lebte] und Dächsels [in Naumburg lebende Verwandte Ns], denn Alle fühlen sich angegriffen und Du bist ja ein großer Mensch welcher sich selbst helfen muss und sich auch die zehn Tage selbst beschäftigen kann, Du kannst ja das Klavierspielen die Tage recht exerzieren, besonders Abends und gegen Abend, aber ja nicht da von Noten [wegen der schwachen Augen bei schlechter Beleuchtung!]. Zieh Deine Uhr täglich auf , steh jetzt um 5 Uhr auf weil Du Dir früher die Augen verdirbst und arbeite nie hinter zugemachtem Roulaux [Rollo], auch in der Stube [wegen der Lichtempfindlichkeit seiner Augen, die ihm leicht Kopfschmerzen verursachten]. Schließe allemal zu was Du aufgeschlossen und täglich die Stube ab wenn Du in die Schule gehst und gib der Frau Pastorin den Schlüssel oder lege ihn hinter den Saalvorhang ins Fenster. So lebe wohl mein teures Kind und erfülle die Wünsche Deiner Dich innig liebenden Mutter. [Das war an Reglement noch nicht alles, denn nun folgte das Schlimmste, eine Ermahnung die noch tiefer blicken lässt als das Vorangegangene: nämlich] Nimm das Blatt [diese Seite des Briefes von der Mutter!] mit Dir nach Naumburg lege es in Dein Pult und lies es von Zeit zu Zeit einmal oder sieh einmal mit darauf ob Du alles tust es sind „ Verhaltensregeln “ [extra und zu persönlichem Gebrach erlassene „Schulgesetze“!!]. An Rosalchen wo Du wahrscheinlich öfter essen wirst werde ich Dir noch ein Briefchen mitgeben, sei da so wie bei den guten Tanten immer recht hübsch freundlich und artig …..
Diesem Brief nach muss N ein bemerkenswert unangepasster Schussel gewesen sein, weswegen dieser Brief der Mutter unbedingt nötig war! Es mag dahingestellt bleiben, ob diese Flut von „ Verhaltensregeln “ dem fast Dreizehnjährigen wie beabsichtig tatsächlich ein „besonderes Vergnügen gewährte“. Die vielen Maßregeln verraten zum einen ein besonderes Achtgeben auf die Gesundheit, die - entgegen den ewigen Beteuerungen der Schwester! - doch recht schwächlich und unzuverlässig war. Zum anderen verrät sich darin ein übertriebener, aber hinsichtlich der praktischen Seite von Franziska N wohl nötig gewesener Ordnungs- und Regelungstrieb der Mutter; - dies aus der Erfahrung heraus, dass bei dem Sohn „sonst nichts richtig klappte“? Wusste die Mutter, wie notwendig ein solcher bis in die Einzelheiten gehender Vorschriftenwust bei Ns Unfähigkeit, in lebenspraktischen Dingen sich in ausreichender Weise selbst um das Notwendige zu kümmern, war? Gar noch mit der Empfehlung, das „Richtlinienblatt“ gewissermaßen stets „bei Fuß“ zu halten, aufzubewahren und immer wieder mal durchzulesen? Weil die Mutter wusste , wie oft sie dem Sohn dasselbe immer wieder sagen musste? Sicher war es Gewohnheit, aus der heraus dieser Brief entstand! - Der Inhalt „passt“ nämlich zum N auch ansonsten anzumerkendem autistischem Naturell! - wie er es bei vielen Gelegenheiten zeigte, was der Mutter als das eigentliche „Problem“ nicht bewusst zu sein brauchte, wenn und weil sie sich ausreichend kümmerte, - denn dann lief soweit mit N alles recht „glatt“, auch wenn es mit ihm nicht einfach war, was die Mutter sicherlich gemeint hatte, als sie dem Vater gegenüber klagte, „dass ihr Fritz so [spürbar offensichtlich auf seine das Autistische streifende unselbständige Art] anders sei, als andere Jungen“. BmN.8
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