Im November machte N noch eine Reihe von Aufzeichnungen zum Ermanarich-Thema, an dem ihn die schaurigen Familienzwiste mit Rache, Mord und Totschlag wohl in besonderem Maße faszinierten, - kaum etwas darüber hinaus.
Vom 24. bis zum 28. November befand N sich wieder einmal auf der Krankenstube. Der offizielle Grund war im Pfortaer Krankenbuch angegeben mit „Rheumatismus“. J1.129
Anfang Dezember schrieb N aus Pforta an Mutter und Schwester in Naumburg seinen Weihnachtswunschzettel:
Zuerst meine Wünsche für Weihnachten. I. Byron [1788-1824], the Works compl. 5 vol. Tauchnitz’ edition. Etwa 2 Taler. Bekanntlich werde ich mit dem neuen Jahre anfangen, Englisch zu treiben und dazu wird mir mein englischer Lieblingsdichter der größte [An-]Sporn sein. II. Horatii opera ed. Stallbaum [Johann-Gottfried, 1793-1861, ein Philologe, Rektor der Thomas-Schule in Leipzig und Herausgeber der Werke des Horaz, einem der bedeutendsten römischen Dichter aus der Zeit von Kaiser Augustus, 65 v. C. bis 8 n. C.] Prachtausgabe Tauchnitz. Dieselbe Ausgabe wie mein Sophokles [497-405 v. C., einer der drei großen klassischen Tragödiendichter], die mir ungemein gefällt, auch für meine Augen sehr zweckmäßig ist. Sie wird nicht ganz 1 Taler kosten.
Das sind meine Hauptwünsche, Noten will ich mir nicht mehr wünschen, da sie mir in der reichhaltigen Domrichschen Leihbibliothek [in Naumburg] zu Gebote stehen. Wohl aber ist mir Notenpapier sehr erwünscht, das ich mir in meiner beliebten Fasson ausbitte. Eine Haarbürste mangelt mir sodann. Das sind meine Wünsche, die ich Eurer geneigten Fürsorge empfohlen haben will. Sonst habe ich heute nichts zu schreiben, als dass ich sehr viel zu arbeiten habe und dass ich der lieben Mamma herzlich völlige Beseitigung ihrer Heiserkeit wünsche. Schließlich bemerke ich, dass ich mich mopsmäßig auf Weihnachten freue Fritz. (339)
Bis über Weihnachten liegen keine anführenswerten Belege vor.
1863: Erste Ansätze zu elementarem Widerspruch
Ferdinand Lassalle, 1825-1864, ein deutscher Schriftsteller und sozialistischer Politiker im Deutschen Bund gründet den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein mit dem Ziel des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts und Produktivgenossenschaften. Großbritannien, Frankreich und Spanien setzen als Kaiser von Mexiko den österreichischen Erzherzog Maximilian ein, der dort 4 Jahre später entmachtet und durch den wieder an die Macht gekommenen Präsidenten Juáres standrechtlich erschossen wurde. In England veröffentlicht einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts, Philosoph und Ökonom, John Stuart Mill, 1806-1873, sein Buch über die Nützlichkeitslehre „Utilitarism“. In der Schweiz gründen 25 Bürger das „Internationale Komitee vom Roten Kreuz; auch in Deutschland wird ein solcher Verein gegründet. In Paris stellt der impressionistische Maler Édouard Manet, 1832-1883, das skandalöse Bild „Frühstück im Grünen“ aus mit zwei nackten Frauen und 2 angezogenen Männern bei einem Picknick in einer Anordnung, die sich wesentlich auf ein Detail aus Raffaels „Urteil des Paris“, also auf klassische Hochrenaissance-Malerei beruft.
Anfang Januar schrieb N aus Pforta an die Mutter in Naumburg:
So bin ich denn nun wieder in dem gewöhnlichen Fahrgleis; indessen es will noch gar nicht vorwärts gehen, zum Arbeiten habe ich gegenwärtig noch wenig Lust und Ausdauer. Auch körperlich ist es mir nicht zu angenehm; ich schlafe nicht gut und bin zum Arbeiten nicht ruhig genug.
In dem letzten erhalten gebliebenen Brief des Vorjahres, vom 19. November 1862, klang das, auf dem Schwall eines unerklärlichen Wohlbefindens, noch sehr anders: „habe jetzt immer erstaunlich viel zu tun, befinde mich aber wirklich wohler als je, so wohl körperlich als geistig. Bin immer in heiterer Stimmung und arbeite mit großer Lust“ und „Wie gesagt, ich habe mich selten in einer wohleren Stimmung gefühlt als jetzt“. - Tatsächlich durchlebte N - ohne zu fragen woher das kam! - wie sollte er auch, da er fühlte ! - und es als seine Leistung genoss! - eine üblicherweise 2 bis 3 Monate währende „manischen Phase“ im Krankheitsbild bipolarer Stimmungszustände, „meine Arbeiten gehen mir gut vorwärts“ bis hin zu „Auch die kalte Temperatur finde ich ganz gemütlich - kurzum ich fühle mich sehr wohl“ - was eben durch seine damalige manische Gestimmtheit verursacht war, auch darin, „niemand, auch gegen die Lehrer nicht in verbitterter Stimmung“ zu sein. Inzwischen war das verflogen, als Rausch; nicht verursacht durch nachvollziehbare aktuelle Ereignisse , sondern dem „Verständnis entzogen“, von innen her gekommen, von „chemischen“ Unverträglichkeiten oder Mangelerscheinungen in seiner Konstitution, die jetzt zur anderen, zur depressiven Seite ausschlugen. Niemand - auch heute noch nicht! - könnte an diesen ersten noch relativ geringfügigen Stimmungsschwankungen erkennen, dass es sich um die typischen Phasen der Stimmungen bei bipolarer Veranlagung handelte, zu denen, unbehandelt , wie sie damals bleiben mussten, Schlafstörungen, Unruhe und Unlustgefühle, Konzentrationsstörungen, verminderter Antrieb gehören; - und später dann - was bei N noch kommen sollte! - Wahnideen und Halluzinationen! Nach damaligen, gewohnten Behandlungsvorstellungen verlangte N stattdessen:
Kannst du mir nicht etwas Brausepulver schicken? Sende mir überhaupt nächstens die Kiste mit Wäsche, insbesondere Hemden. Jetzt übrigens keine Stolle zu haben [ein zur Weihnachtszeit beliebter, schwerer, Rosinen, Marzipan und kandierte Früchte enthaltender, brotförmiger Hefekuchen], vermisse ich sehr, da alle welche haben. Diese [Weihnachts-]Ferien waren doch sehr nett von Anfang bis zu Ende und ich danke euch allen recht für eure Liebe und Freundlichkeit. Meinen Rock übersendet mir ja recht bald, es fehlt mir sehr daran. Es wird nun doch wieder nötig sein, einen neuen Tutor zu suchen, da D. Heinze doch ganz wahrscheinlich nach Oldenburg kommt. Er wurde Sonnabend durch ein Telegramm dorthin gerufen, um sich vorzustellen. Die Stelle hat 1000 Taler und nach drei Jahren für jedes Jahr seines Lebens als Pension 600 Taler. Also nicht zu verachten! Schreibe mir, an welchen Lehrer Du denkst? [Der inzwischen gut achtzehnjährige N entschied nicht in eigener Regie, wen er sich statt Heinze als künftigen Tutor wählen sollte!] Peter nicht [der war „entehrt“ und „belastet“ durch seine Verweigerung, N auf Bitten von Rat Krug trotz Strafmaßnahme an der Geburtstagsfreier seines Freundes Gustav teilnehmen zu lassen!]; vielleicht Korssen oder Koberstein, oder Kern oder Volkmann. Von den andern aber ja niemand [dennoch sollte es zuletzt einer von diesen „andern“ werden!]. Herzliche Grüße. Dein Fritz. (340)
An die unverheiratet gebliebene Tante Rosalie N, die bis zum Tod der Großmutter N zum unmittelbaren Haushalt gehörte und seither auf dem Weg von Pforta nach Naumburg etwas „näher an Pforta“ als der Weingarten 18 wohnte, schrieb N am 12. Januar 1863, einem Montag, morgens, zu deren 52. Ehrentag:
Liebe Tante. Leider fällt auf Deinen lieben Geburtstag keiner meiner Spaziergänge und ich kann deshalb nicht im Kreise aller Glückwünschenden dies schöne Fest feiern. Sei es mir darum vergönnt, in einigen Zeilen das auszusprechen, was ich von guten Wünschen für Dich in meinem Herzen hege. Du hast mir immer so viel Liebe erwiesen; noch das letzte Weihnachten legt Zeugnis von dieser Liebe ab, die gern und mit vollen Händen gibt und die immer sorgt, ob es mir wohl geht und immer bedacht ist, was mir noch fehle. Für diese Liebe zu danken und in schwachen Worten die Herzensgrüße auszudrücken, durch die ich einzig meine Dankbarkeit erzeigen kann, ist darum immer und an Tagen wie heute besonders eine meiner ersten und liebsten Pflichten gewesen; und mehr noch als diese wenigen Worte sagen können, magst Du mir selbst in meiner Seele lesen, liebe Tante!
Читать дальше