Die gestrengen Herrn Lehrer [denen nur ein anderes Verhältnis zu der zu verwaltenden „Schulrealität“ eigen war!] waren darob sehr erstaunt, wie man in eine so ernsthafte Sache Witze mischen könnte, luden mich Sonnabend vor die Synode [eine Versammlung der Pförtner Professoren, die u.a. auch die disziplinären Maßnahmen beschloss] und diktierten mir hier als Strafe nicht weniger als drei Stunden Karzer und den Verlust einiger Spaziergänge zu [nicht erwähnt hat N, dass er dadurch zugleich offiziell „bedroht in seiner Stellung als Primus“ J1.106war]. Wenn ich mir dabei irgendeine andere Schuld als Unvorsichtigkeit zumessen könnte [er hatte nicht begriffen, worum es eigentlich ging, - nämlich um sein mangelhaftes Realitätsverständnis und seine ebenso mangelhafte Bereitschaft, einen ernsten, positiven Beitrag zur Hausstandsverwaltung zu erkennen und zu leisten !], würde ich mich darüber ärgern [wozu eigentlich aber, wenn er zu seinem eigenen Tun kritische Distanz besessen hätte, Grund genug gegeben war]; so aber habe ich mich keinen Augenblick drum gekümmert [dennoch hatte ihn der Vorfall so sehr gewurmt, dass er sich noch nach 26 Jahren in seiner letzten Selbstdarstellung, dem „Ecce homo“ - und zur Veröffentlichung bestimmt! - veranlasst sah, darauf zurückzukommen] und nehme mir nur daraus die [völlig falsche, ihn in selbstkritikloser Herrlichkeit schonende !] Lehre, andere mal mit Scherzen vorsichtiger zu sein. -
Das bedeutete, dass ihm - als Opfer seiner Realitätsferne und wegen seiner Unbelehrbarkeit ! - im Leben, Denken, Handeln - aus gleichem Grunde ! - noch viele schwere Fehler unterlaufen mussten! Von Seiten der Pfortaer „Synode“ hieß es: „N erlaubt sich als Schulhausinspektor arge Witzeleien über einige Übelstände auf dem Zettel, den er bei dem Hebdomadarius [dem wöchentlich mit der Aufsicht beauftragten Lehrer] abgibt.“ Er erhielt dafür: „3 Stunden Carcer und [ist] bedroht in seiner Stellung als Primus. Auch 1 Woche dispensiert.“ KGBI/4.210
Ich habe übrigens die Kiste Tag für Tag erwartet, insbesondere die Stiefeln, an denen doch wenig zu machen war. Weiße Wäsche hatte ich noch für den Sonntag. Weiße Strümpfe fehlen mir sehr. Ich habe jetzt immer viel zu arbeiten, befinde mich aber dabei ganz wohl und wünsche nur dass das Wetter besser wäre. Heute ist S. Martinstag und wir haben die übliche Martinsgans (natürlich in 12 Teilen) gegessen. In diese Zeit muss ja auch S. Niklas [in knapp vier Wochen erst!] fallen. Das ist eine angenehme Zeit, dieser Übergang von Herbst und Winter, diese Vorbereitung von Weihnachten, auf das ich mich so freue. Das wollen wir recht zusammen genießen. Schreibt mir recht bald ….. (337)
Auf seinem Wocheninspektionszettel hatte N unter anderem angegeben:
Im Auditorium so und so brennen die Lampen so düster, dass die Schüler versucht sind, ihr eigenes Licht leuchten zu lassen … In der Obersekunda [Räumlichkeiten, die man nach ihren Nutzern benannt hatte] sind kürzlich die Bänke gestrichen [worden] und zeigen eine unerwünschte Anhänglichkeit an die sie Besitzenden. J1.106
N hat sicher nicht wenig Nachdenkerei aber doch wenig Originalität aufgewandt zur „Witzigmachung“ seiner Formulierungen - ohne ausreichend zu bedenken, dass er eigentlich eine ernsthafte Funktion zur Bereinigung von Missständen zu erfüllen gehabt hatte! Die N-Biographen fühlen sich durchweg - in Kritikvermeidung an ihrem Idol! - dazu veranlasst, die Humorlosigkeit des Lehrkörpers und auch den der Mutter zu rügen, statt bei dem ja ach so genialen N den Mangel an Ernsthaftigkeit für das realitätsbezogen Notwendige der von ihm durchweg missachteten Jetztzeit zu erkennen! Die praktisch orientierte Mutter schrieb nach dem Vorfall der verulkten Schulhausinspektion ihrem Sohn zwei Tage später, am 12. November 1862:
Mein lieber Sohn! So lange habe ich Dir schreiben und die Kiste [mit Nasch- und Esswaren und Wäsche etc.] senden wollen aber die Waschfrau hat mich so lange hingehalten, dass es nun erst heute geschehen kann. Ich habe eine wahre Sehnsucht gehabt, Dich zu sehen und freute mich Sonntag sehr darauf. Du kannst Dir aber meinen Schreck und Erstaunen denken, als wir hinkamen [nach Almrich, auf halbem Wege] und Dich nicht trafen und bei näherer Nachforschung wegen Deines Wegbleibens erfuhren, dass Du vom Spaziergang dispensiert seiest. Ich wollte es gar nicht recht glauben; wir tranken jedoch unsern Kaffee draußen, der mir gar nicht munden wollte ….. so empfing ich nun gestern Deinen Brief, der mir Aufschluss gab und so wurde ich aus dieser peinlichen Unruhe gerissen. Gott Lob dass es kein schlechter Streich ist [was es jedoch, de facto, war!], aber offen gestanden mein lieber Fritz hätte ich Dir mehr Takt zugetraut. Du wirst [und das wies darauf hin, dass derlei kein erstmaliger Vorwurf war!] von Neuem des Fehlers der Eitelkeit angeklagt worden sein [es war also „von Neuem“ im Gespräch zwischen Mutter und Sohn und wohl auch von Seiten der Lehrer ein derartiger Anlass zu verzeichnen! - und auch:] immer etwas anderes zu tun als die Anderen [was also schon damals als fundamentale Widerspruchs-Eigenheit an N aufgefallen war und von N im Laufe der Jahre aus seinem Charakterzug heraus zu einer neuen Art von „Philosophie“ und Weltanschauung gemacht werden sollte!] und finde die Strafe ganz gerecht, denn es erscheint als eine furchtbare Anmaßung, den Lehrern gegenüber sich so etwas zu erlauben. Also bitte sei vorsichtiger in Deiner Denkungsweise und Handlungsweise folge stets Deiner innern bessern Stimme [jedoch war es gerade diese, die ihm den Fehltritt eingegeben hatte!] und Du wirst vor aller Unruhe und Kämpfen die jetzt mehrere in Dir und an Dir bemerkt haben, bewahrt bleiben [also hatte sich Ns Auftreten und Verhalten nach der Emerson-Infektion doch für die anderen merklich! - verändert ; das wurde hier festgestellt].
Schreibe mir bald mein teurer Sohn, aber nicht mit der Anrede „liebe Leute“ Du wirst selbst fühlen, dass das sich nicht an die Mutter schickt. Nun sehen wir uns also länger nicht, das tut mir sehr leid! ….. gib doch gleich die fremden Strümpfe ab und schicke mir alle Deine schmutzige Wäsche.
Wenn die Mutter in Kenntnis des kürzlich erst erhaltenen Erziehungsbericht davon schrieb, N würde „von Neuem des Fehlers der Eitelkeit angeklagt“ und dass N „immer etwas anderes als die Anderen tut“ und dass sie „finde, die Strafe sei ganz gerecht“, so liegen dem natürlich eine Reihe von im Einzelnen sicherlich als unbedeutend zu beurteilende - aber doch vorgekommene ! - anekdotisch allerdings nicht überlieferte Anlässe zugrunde „die jetzt mehrere in Dir und an Dir bemerkt haben“, - Neigungen also, die an ihrem Sohn durchaus wahrzunehmen waren! Sicher war sie froh, dass solche Erscheinungen für einmal auch von anderen gerügt wurden. Zusammen mit andren gelegentlichen Auffälligkeiten seines Betragens war seine meist unter überlegenem Argumentationsgeschick gut versteckte Neigung zum Widerspruch als ein Charakterzug Ns also durchaus und längst schon als ein Teil seines „herrscheramtlich“ geprägten Gebarens wahrnehmbar. Auch diese Eigenheit von ihm wird im Lauf der Jahre ihre „philosophische“ Entfaltung erfahren.
In sein Notizbuch schrieb N im November 1862, deutlich erkennbar als Reaktion auf den Rüffel, den sich der beleidigte Primus eingehandelt hatte und getarnt als eine „Erkenntnis“, eine „Verhaltensweise“, eine „Absicht für die Zukunft“, - zur Klärung seiner „geistigen“ Position in dieser Welt gewissermaßen. Sie lautet in vollkommener Unterordnung, Anwendung und Erfüllung Emersonscher Grundsätze:
Nichts verkehrter als alle Reue über Vergangnes, nehme man es wie es ist. Ziehe man sich Lehren daraus, aber lebe man ruhig [unbeirrt von allem, was außerhalb des eigenen Ich Gültigkeit beanspruchen könnte!] weiter, betrachte man sich [und damit beschrieb N nur das, was er tat!] als Phänomen, dessen einzelne Züge ein Ganzes bilden [was angesichts der Tatsache, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, banal war, - aber nicht klug !]. Gegen die andern sei man nachsichtig, bedaure sie höchstens [milde aus den Höhen seines „Herrscheramtes“, nahe der Verachtung], lasse sich nie ärgern über sie [wie solcher ihm gerade im Halse steckte], man sei nie begeistert für jemand, [und da trat das verächtliche Element gleich an die Oberfläche:] alle nur sind für uns selbst da, unsern Zwecken zu dienen [wozu aber Macht gehört hätte, derlei auszuleben ! - Woran es N im tatsächlichen Leben jedoch lebenslang gebrach. So war das alles nur ein sauber geschmiedetes „Programm“, die autistische Situation, in der er steckte, mit Worten zu reglementieren und zu rechtfertigen nach den „Gesetzmäßigkeiten“ die seinem Wesen als die „Gesetze der Welt“ erschienen ]. Wer am besten zu herrschen versteht [wozu er sich ja längst berufen fühlte!], der wird auch immer der beste Menschenkenner sein [was eine Aussage war, die eigentlich erst in ihrer Umkehrung richtig ist und zu überzeugen vermag: Der beste Menschenkenner wird am besten zu herrschen verstehen!]. Jede Tat der Notwendigkeit [beurteilt nach eigenem Nutzen? - wie von jedem gemeinen Verbrecher!] ist gerechtfertigt, jede Tat notwendig, die nützlich ist. Unmoralisch ist jede Tat, die nicht notwendig [und auch das war so nicht richtig!] dem Andern Not bereitet [da funktionierte bei N noch die altüberbrachte, korrupte Clan-„Moral“!]; wir sind selbst sehr abhängig von der öffentlichen Meinung, sobald wir Reue empfinden und an uns selbst verzweifeln [„verzweifeln“ schrieb N, - statt „zweifeln“! Was etwas sehr anderes ist! Statt sich fest und unbelehrbar auf seinem Standpunkt zu verschanzen und dabei zu „ ver zweifeln“ ließe der „Zweifel“ Korrekturen von außen zu!]. Wenn eine unmoralische Handlung notwendig ist [wofür es aus subjektiver Sicht tausende von Gründen und Möglichkeiten gäbe!], so ist sie moralisch für uns [im Kurzschluss nur auf das eigene Ich gerichtet: In seinem Urteil über sich selbst ! - Darüber nachgedacht ist es fast unglaublich, welche seelische und menschliche Unreife dieser Text von und über N verrät!]. Alle Handlungen können nur Folgen unsrer Triebe ohne Vernunft, unsrer Vernunft ohne Triebe und unsrer Vernunft und Triebe zugleich sein. BAW2.143
Читать дальше