Am 1. März 1863 schrieb N an die Mutter und Schwester in Eilenburg, das liegt von Naumburg aus gut 90 Kilometer entfernt nordöstlich „auf der anderen Seite“ von Leipzig:
Liebe Mama! Nachdem ich am vorigen Sonntag, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass ihr verreist seid, nach Naumburg gegangen war ….. habe ich Tag für Tag auf einen Brief von dir gewartet, den ich auch Freitagnachmittag zu meiner großen Freude bekam. Es scheint euch ja sehr wohl zu gehen; ich wäre selbst am liebsten mit in Eilenburg, wo ich lange nicht gewesen bin. Nun weiß ich nicht einmal, wie ihr euch in Pforte amüsiert habt; Der Ball kam mir im Allgemeinen ziemlich gemütlich, nur etwas langweilig vor. Die Obersekundaner haben nach meiner und aller Meinung famos gespielt und unser Spiel ist etwas dagegen abgefallen [es gab in diesem Jahr keine brieflichen Berichte über die Aufregungen, die mit solchen Aktivitäten einschließlich der Bowle hinter der Bühne zusammenzuhängen pflegten] ….. Das Ereignis dieser Tage ist, dass [Guido] Meyer [jener „Schöne“, „Liebenswürdig-Witzige“, an den Paul Deussen seinen Freund N 1862 für eine geraume Zeit des „Tollseins“ verloren hatte und dem allerlei Einfluss auf N zu nehmen gelang] zu unserm größten Leide relegiert [von der Schule verwiesen] worden ist und zwar wegen eines Prello [eines unerlaubten Verlassens der Schule] nach Almrich, das er mit meheren meiner Bekannten unternahm, aber auf dem Rückweg von Lehrern gefasst wurde [was als eine gezielte Aktion vermuten lässt, dass er nicht allein deshalb gehen musste!]. Um so mehr tut uns dies wehe, als Meyer in dem letzten halben Jahr sehr gut bei den Lehrern stand und sich selbst sehr anstrengte. Es sind auch von den Lehrern alle möglichen Maßregeln getroffen worden ihn zurückzuhalten, aber einige erschwerende Umstände verhinderten dies [hauptsächlich wohl die sehr in Frage stehende Versetzung nach Unterprima, denn er war, obwohl drei Jahre älter als N, ein halbes Jahr hinter N zurück]. Die letzten Tage seines Aufenthaltes leben wir nun ganz noch zusammen, von allen Seiten werden ihm Beweise der Liebe und Anhänglichkeit zu Teil; denn er wird von allen, die ihn näher kennen [seines deutlich reiferen Alters wegen?], sehr hoch geschätzt. Dieser Sonnabend, wo die Synode war und wir in der größten Aufregung, war entschieden der traurigste Tag, den ich in Pforta verlebt. Sein ferneres Geschick ist nun äußerst zweifelhaft, da er gar keine Mittel hat. - ….. Ich erwarte sehnlichst eure Ankunft [in Naumburg, - zurück von Eilenburg!]; grüßt meine lieben Eilenburger Verwandten vielemal von mir! Lebt recht wohl! Fritz. (343)
Zu diesem genau genommen nur zeitweise, nämlich halbjährlichen Mitschüler, von dem das ganze Jahr 1862 nichts zu vernehmen war, bestand seitens N ein gutes Verhältnis. Er war künstlerisch begabt, „auch ein vorzüglicher Zeichner von Karikaturen, aber mit Lehrern und Schulordnung in ewigem Kampfe“ PDL.71 u. PDE.5, wie Paul Deusen berichtete. Durch ihn hatte sich N nicht nur zeitweise von Deussen entfremdet, nein, er fand selbst Freude an einer gewissen Aufmüpfigkeit, wie seinem „Spaß“ anlässlich der Inspektorenwoche, was sich in seinem Alter von nunmehr knapp 19 Jahren schwerlich noch mit Pubertätsgründen erklären lässt. N „hasste jetzt seine eigene Bravheit und die der anderen. Er wurde mokant und machte aus seiner Kritik nicht immer ein Hehl“ J1.113. In die Zeit dieser Freundschaft fiel auch der Vorfall mit dem flapsigen Tonfall gegenüber der Mutter mit der Anrede „Liebe Leute“ - und dass er sich das bis dahin gute Verhältnis zum Anstaltsarzt dadurch verdarb, „dass er ihn in Hörweite „einen alten Schwätzer nannte“ J1.113. Letztlich fällt das alles auf eine gewisse Weise unter die Rubrik der Unangepasstheit an die Realität, die N eigen war. Zu dem hier gezeigten Einsatz für diesen Guido Meyer vor der Mutter passt irgendwie nicht ganz, was Paul Deussen berichtet hat und auch nicht, wie N sich nachfolgend verhielt.
Am 25. März 1863 schrieb Guido Meyer nämlich aus Beeskow, einem kleinen Städtchen an der Spree, knapp 100 km südöstlich von Berlin an N in Pforta:
Geliebter Freund! Ich schicke Dir hiermit die versprochenen Photographien mit der Bitte, sie doch zu verteilen. Übrigens weiß ich bis jetzt noch nicht, wie sich die Zukunft für mich gestalten wird ….. [dann berichtete er über vergeblich verlaufene Versuche, ihn - seines Alters wegen mit Versetzung nach Prima ! - die er in Pforta nicht erreicht hatte - irgendwie und -wo in einem Internat unterzubringen.] Dass meine Lage hier keineswegs beneidenswert ist, kannst Du Dir denken; obgleich von meiner Mutter der Vergangenheit weder in unnötigen Klagen oder gar Vorwürfen gedacht wird, so sehe ich doch bei jeder abschlägigen Antwort ….. ihre Blässe, ihre Unruhe und Sorgen, deren Äußerungen sie vergebens zu unterdrücken und zu verbergen sucht ….. so wirst Du wohl auch einsehen, dass mir jede Veränderung meiner Lage, mag sie noch so übel ausfallen, nur erwünscht und angenehm sein kann.
Doch auch der Gedanke daran versetzt mich in einen Zustand von ich möchte fast sagen Zerknirschung und moralischen Katzenjammers, dass ich durch eigne Schuld so liebe Freunde verloren, oder ich will vielmehr sagen, deren Umgangs beraubt bin ….. und deren Wert man erst dann recht erkennen und schätzen lernt, wenn sie fern sind, Freunde, von denen mir die Trennung um so schmerzlicher und schwerer war, da ich sie die ersten und einzigen nennen konnte, die ich bis jetzt hatte. Und dies war es, was mich, ich schäme mich dieses Geständnisses nicht, auf dem Wege nach Kösen [wo N und Deussen ihm, wie Deussen - nicht N ! - es berichtete, noch nachgesehen hatten!], wo ich ganz, ganz allein war, wo die Selbstbeherrschung, die ich während der letzten Stunden und Augenblicke in Pforte, ja während des Abschieds im Tore, beizubehalten mir vorgenommen hatte, zusammenbrach: - das war es also, was mich hat weinen lassen, wie ein Kind, das ist es, was mich auch jetzt noch und das oft genug, Tränen vergießen lässt. -
Derartig Verzweifeltes hatte N bis dahin nie in seiner Nähe, geschweige denn am eigenen Leibe erfahren. Er wurde nicht herumgestoßen, abgeliefert, alleine gelassen. Er hatte sich über eine ewig hin- und her-pendelnde Kiste so etwas wie eine „Nabelschnurverlängerung“ bewahrt. Sein Einsamkeitsbedürfnis ging immer von ihm aus, - nicht von des Schicksals allmächtig unüberwindbaren Kräften. - Giudo Meyer fuhr in seinem einsam klagenden Brief fort:
Und Gelegenheit und Veranlassung habe ich hier genug, Muße zur Selbstbetrachtung und zu Reflexionen habe ich so viel, um einem Einsiedler noch davon abgeben zu können. Ich bin hier wie in einer Wüste und wie wenig Anziehendes Pforte (an und für sich) für mich haben kann, so sehne ich mich doch nach ihr zurück und mit viel größerer Inbrunst, als die Kinder Israel nach den Fleischtöpfen Ägyptens - und Canaan? - Wo ich das finden werde, weiß Gott - vielleicht auch erst nach 40 Jahren, wie die Juden in der Wüste. - Was gäbe ich doch drum, wenn ich hier einen von Euch, wenn ich Dich, ja sogar wenn ich nur Deussen hier hätte, ich wäre ja glücklich, ich hätte doch einen Menschen, mit dem ich sprechen, gegen den ich mich aussprechen könnte, - so aber kenne ich in dem ganzen Nest auch nicht einen Menschen ….. ich bin also ganz, ganz allein - „unter lauter Larven die einzige fühlende Brust“.
Diese letzten Worte waren zwischen den Freunden - Deussen, Guido Meyer und N - Deussen erwähnte diese Formel erst in einem Brief vom 29. April 1869 an N! - eine sicherlich gern benutzte geheimbündlerisches Zitat besonderen „Inhalts“, der für N - mit etlichen Details aus dieser Zeit heraus! - in späteren Jahren - als Erinnerung? - von einer gewissen Bedeutung geblieben ist, auch wenn es sich, wie N wohl wusste, dabei ursprünglich „nur“ um eine Zeile aus dem Gedicht „Der Taucher“ von Friedrich Schiller, 1759-1805, dem Dichter, Philosophen, Historiker und bedeutenden deutschen Dramatiker, handelte. Dort stehen die Worte in der 21. Strophe, tief unten in einem Wasserschlund, wie er berichtete: „Und da hing ich und war’s mir mit Grausen bewusst - Von der menschlichen Hilfe so weit, - Unter Larven die einzig fühlende Brust, - Allein in der grässlichen Einsamkeit, - Tief unter dem Schall der menschlichen Rede - Bei den Ungeheuern der traurigen Öde.“
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