Faustregel
Das Einfache ist dem Leser näher als das Komplizierte.
Wie nahe ein Text von den Lesern empfunden wird, hängt darüber hinaus von der Gängigkeit des Tempus ab, etwa dem, was im Genre üblich ist. Auch Gewöhnung und Vorlieben spielen eine Rolle. Leser, die mit im Präteritum erzählten Geschichten aufgewachsen sind, kommen bei diesem Tempus womöglich näher an die Charaktere als bei dem für sie unvertrauten Präsens, das die aktuelle Jugend- und Young-Adult-Literatur zu beherrschen scheint.
Literaturagent und Schreibguru Donald Maass nennt das den » immersiven POV« und erkennt einen Trend[Fußnote 20] , zunehmend dichter am Charakter zu erzählen. Dazu gehöre mehr als Nähe, vielmehr werde das Verwischen der Grenzen zwischen Erzähler/POV-Charakter und Leser angestrebt – die totale Versenkung.
Das Intime daran sollte nie Selbstzweck sein. Wie alles im Roman hat es eine Aufgabe zu erfüllen: Vertiefung des Charakters, Fortführung der Story, Suspense, das Streuen falscher Fährten, Vorausdeutungen und, und, und.
Manchmal kann es zielführend sein, die Leser zu überwältigen: mit massiven Eindrücken, innersten Gedanken und intimsten Gefühlen – ein probates Stilmittel. Der Roman aber ist es ja gar nicht, der den Lesern ihre intensiven Erlebnisse beim Lesen verschafft. Sondern sie selbst und das, was sie aus dem Roman für sich herausziehen, die Beziehung, in die sie sich – dank Ihrer fachkundigen Hilfe – zum Gelesenen setzen.
Faustregel
Das Präsens an sich stellt keine Nähe her. Aber es ist ein wirkungsvolles Mittel dazu.
Entsprechend distanzieren Sie die Leser, wann immer Sie aus der Erzählzeit herausfallen. Etwa über einen Vorgriff, den die gewählte Perspektive nicht gestattet:
»…
Amelia Sachs wusste, sie würde sterben.
…«
(Jeffery Deaver, »Der Todbringer«, Blanvalet 2019)
Dies verdeutlicht, dass Sie beim Schreiben Vorteile selten geschenkt bekommen, sondern sie mit Nachteilen an anderer Stelle bezahlen. Im Beispiel sorgt der Vorgriff zwar für mehr Suspense, dafür büßt die Handlung an Unmittelbarkeit und Nähe ein.
Auch der Stil, wie überhaupt jedes sprachliche und rhetorische Mittel, wirkt sich auf Nähe und Distanz aus.[Fußnote 21] Denken Sie insbesondere bei etwas ausgefalleneren Stil- oder Sprachmitteln daran.
Je näher das von Ihrem Erzähler verwendete Vokabular dem Vokabulardes Protagonisten kommt, desto näher kommen die Leser diesem Protagonisten.
Distanz variieren Sie auch mit diesen sprachlichen Maßnahmen:
• Manierismen (Beispiel: POV-Charakter beginnt viele Sätze mit »Ich weiß ja«)
• dauerhafte Fehler (Beispiel: POV-Charakter benutzt ein Fremdwort stets falsch)
• auffällige Lieblingswörter
Warum näher? Der Charakter wirkt authentischer, lebensechter, trennschärfer.
Warum distanzierter? Der Charakter wirkt unsympathischer (etwa wenn er dauernd vulgär flucht oder hochgestochene Wörter verwendet).
Dementsprechend sorgen emotionale Wörterfür mehr Nähe als eine sachliche Sprache. Es sei denn, der Charakter würde genau diese sachliche Sprache selbst verwenden.
Grundsätzlich schafft eine aktive Sprache mehr Nähe, während eine passive Sprache die Leser von der Story und ihren Charakteren distanziert.
Eine aktive Sprache zieht den aktiven Fall dem passiven vor, sie zeichnet sich durch dynamische, kraftvolle und spezifische Verben aus, überhaupt durch die Bevorzugung von Verben (Tu-Wörtern!) gegenüber Adjektiven (Zustandswörtern). Wenn Sie schon Adjektive verwenden, dann die treffenden und besonderen, während Sie Adverbien am besten nur punktuell einsetzen.
Spezifische Substantive sind nicht allein beim Erzeugen von Nähe der Kombination Adjektiv + unspezifisches Substantiv überlegen. So sorgt nicht nur bei Sportwagenfans das Substantiv »Ferrari« für mehr Emotionen und holt die Leser näher heran als das Wort »schnelles Auto«, eine »Pochette« schlägt das »modische Accessoire«, der »Rioja« den »spanischen Rotwein«.
Vergleichen Sie die folgenden Versionen des gleichen Romananfangs im Hinblick darauf, wie nahe sie die Leser heranholen:
»…
Die Pferde gingen langsam zum Tal hinunter. In den Schwaden grauen Regens wurden die Tiere unter ihrer Last geschaukelt. An ihrer Spitze ging eine große Gestalt, als wollte sie die Pferde von dem dunklen Dorf weiter oben fortziehen. Ein Mann, der neben der Holzbrücke unten im Tal stand, schaute unter seinem Hut hervor und verzog das Gesicht.
Wasser sickerte durch die Stiefel des Ersteren. Der Regen durchweichte seine Kleidung. Zu seinen Füßen befand sich die Fracht, zu dessen Ablieferung man ihn verpflichtet hatte. Eine ganze Weile schon war er unterwegs. Vorhin hatte sich noch die ganze Landschaft unter ihm befunden. Und dann hatte er die Pferde gesehen.
…«
»…
Die Packpferde stapften langsam zum Tal hinunter. In den Schwaden grauen Nieselregens schaukelten die Tiere unter der Last von Kisten und Säcken. An ihrer Spitze kämpfte eine große Gestalt gegen den Regen an, als wollte sie die Pferde von dem dunklen Dorf weiter oben fortziehen. Ein junger Mann mit schmalem Gesicht, der neben der Holzbrücke unten im Tal stand, spähte unter seiner tropfnassen Hutkrempe hervor und rang sich ein Grinsen ab.
Wasser sickerte durch die Nähte von Benjamin Martins Stiefeln. Der Regen durchweichte seinen Umhang. In dem Bündel zu seinen Füßen befand sich die Fracht, die im Gutshaus abzuliefern er sich verpflichtet hatte. Seit fast einer Woche war er unterwegs. An diesem Morgen hatte noch das ganze Tal vor seinen wundgelaufenen Füßen gelegen. Und dann hatte er die Packpferde entdeckt.
…«
(Lawrence Norfolk, »Das Festmahl des John Saturnall«, Knaus 2012)
»…
Die Packpferde stapften zum Tal hinunter. In den Schwaden des Nieselregens schaukelten die Tiere unter der Last von Kisten und vollgesogenen Säcken. An ihrer Spitze kämpfte ein Bär von einem Mann gegen den Regen an, als wollte er die Pferde von dem unheilvollen Dorf oben fortziehen. Ein Jüngling mit schmalen Zügen, der neben der Holzbrücke unten im Tal wartete, spähte unter seiner tropfnassen Hutkrempe hervor und rang sich ein Grinsen ab.
Wasser sickerte durch die Nähte von Benjamin Martins Stiefeln. Der Regen durchweichte seinen Wollumhang. In dem Bündel zu seinen Füßen verbarg sich die Fracht. Er hatte sich verpflichtet, sie im Gutshaus abzuliefern. Seit einer Woche quälte er sich über schlammige Wege, umging unpassierbare Furten und träumte von trockenem Unterzeug und einem prasselnden Feuer im Kamin. An diesem Morgen hatte sich noch das ganze Tal vor seinen wundgelaufenen Füßen erstreckt. Und dann, zu seinem Entsetzen, hatte er die Packpferde entdeckt.
…«
So beginnt Lawrence Norfolks historischer Roman, hier in unterschiedlich aktiver Sprache. Spüren Sie, wie Sie der Szene als Leser mit jedem Mal, mit jeder Steigerung in der Aktivität, näherkommen? Die mittlere Variante ist die Übersetzung des Verlags. Sie ist keiner der anderen überlegen oder unterlegen. Entscheidend ist, dass Sie in Ihrem Text mit dem Justieren von Nähe und Distanz das erreichen, was Sie erreichen wollen.
Distanz hat den Vorteil, dass Sie leichter zwischen Erzähl- oder Handlungssträngen wechseln können, ohne die Leser aus dem Fluss des Geschehens zu reißen.Stellen Sie sich das vor wie einen Staffellauf – die Übergabe des Staffelstabs im Laufen und von Hand zu Hand fällt leichter und erfolgt in einem natürlichen Schwung von Läufer zu Läufer. Doch wenn die Athleten den Stab jedes Mal einbuddeln würden und die nächsten den Stab ausbuddeln müssten, käme der Fluss gewaltig ins Stocken.
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