Für das ganze Land galt nun die oberste Terrorwarnstufe direkt unterhalb des Allgemeinen Ausnahmezustandes.
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Kapitel 4: Ein Minimum an Mitgefühl.
Deutschland, Schlosshotel der Burg Rheinfels bei St. Goar. Sonntag, 12. Oktober 2014, 8:50 Uhr. Ein Minimum an Mitgefühl.
Das beinahe grimmige Schnurren des auf Vibrationsalarm gestellten IPhones weckte Sax um kurz vor neun Uhr am Morgen. Er stellte sogleich fest, dass der Platz im Bett neben ihm leer und Silke Wedding verschwunden war, und überlegte einen Moment, ob ihr Besuch vielleicht nur ein feuchter Traum gewesen sein könnte. Allerdings hing immer noch ihr angenehm verschwitzter Heugeruch in den Bettlaken, die sie in den frühen Morgenstunden zerwühlt hatten. Irgendwann war er befriedigt eingeschlafen und hatte nicht gemerkt, wann sie ihn wieder verlassen hatte. Das Essen, der Alkohol, die Tänze und der nächtliche Verkehr hatten ihn schließlich in den ungewöhnlich tiefen, wenn auch kurzen Schlaf fallen lassen, zu dem er nur fähig war, wenn er absolut entspannt sein konnte.
Freysing angelte nach dem Quälgeist auf einem kleinen Zimmertisch und war nicht überrascht, auf dem Display die Anzeige „Musikschule“ zu lesen: Wer sonst sollte ihn an einem Sonntagmorgen wecken, wenn nicht seine Dienststelle?! - Er nahm das Gespräch an und meldete sich, fast etwas genervt, nach einem tiefen Durchatmen.
„Saxophon!“
„Guten Morgen, Freysing!“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, die er trotz der elektronischen Verzerrung des Zerhackersystems unschwer als jene von Generalmajor Stoessner identifizierte, der seit einiger Zeit die militärische Abteilung TE (Terrorismus und internationale organisierte Kriminalität) beim Bundesnachrichtendienst leitete. Sein Vorgesetzter in Berlin klang bereits in diesen ersten Worten trotz Wochenende und früher Tageszeit hellwach und munter, gleichzeitig aber sehr besorgt.
„Ist etwas passiert?“, fragte Sax sogleich, noch gereizt über die Störung. Nach der „Stahlmann“-Affaire hatte er im Sommer nur einen kurzen Urlaub genommen und mit Cathleen „Katie“ Conquête, seiner neuen Freundin, in Frankreich verbracht, um dann bald wieder auf geheime Missionen geschickt zu werden. Er fand, er habe sich durchaus noch, oder wieder, etwas Auszeit verdient. Wenn man ihn allerdings zum heiligen Sonntag weckte, bedeutete das sicher nicht, dass er in seinem Büro in München-Pullach die Sachen packen sollte, um nach Berlin-Mitte umzuziehen, wo sich das neue BND-Hauptquartier befand. Stoessner schien den Unterton zu bemerken.
„Es ist!“, sagte dieser nämlich ungewöhnlich scharf. „Haben sie einen Fernseher in der Nähe?“
Freysing bejahte, schlug die Bettdecke zur Seite, stand auf, ging nackt wie er war durch das Zimmer und schaltete das kleine Gerät ein, das sich ein Stück weit schräg gegenüber des Bettes in einer Wandhalterung befand. Intuitiv suchte er mit der danebenliegenden Fernbedienung einen Kanal, der ganztägig Nachrichten und Reportagen brachte und sah dann mit einer Mischung aus Verwunderung und Fassungslosigkeit die ersten Bilder des Anschlagsortes in Bonn, allerdings nur mit herunter geregelter Lautstärke. Dann trat er zurück und setzte sich auf die Bettkante.
„Heute Morgen wurde in Bonn ein Sprengstoffanschlag auf den Nachtexpress Zürich-Amsterdam verübt“, vernahm er nun Stoessners Stimme weiter, während die Bilder im Hintergrund beinahe ohne Ton liefen. „Nach bisherigen Einschätzungen gab es dabei über vierhundert Tote und noch zweimal so viel Verletzte.“
„Gute Güte!“, brachte Freysing, jetzt ebenfalls hellwach, schluckend hervor. „Gibt es schon etwas Konkretes?“
„Die Spezialisten sind vor Ort. Man ist dabei, die Feuer zu löschen und die ersten Spuren zu sichern. Sicher ist nur, dass es kein Unfall war. Es gab eine gewaltige Explosion, der weitere Verlauf und die Umgebungsschäden weisen auf eine kleine Bombe mit enorm großer Sprengkraft im Zug hin.“
„Nuklear?“, fragte Sax alarmiert.
„Nein, glücklicherweise nicht.“, beruhigte sein Chef. „Aber es reicht auch so!“
Aus dem Fernsehen und Stoessners weiterem Erzählen entnahm Freysing nun, das anschließend noch der Kesselwagenzug in die Stelle hineingefahren war, was das Ausmaß der Schäden multipliziert hatte. Er erkannte die qualmenden Überreste des ehemaligen Vorstadtbahnhofs „Bonn-Mehlem“ und bemühte sich, seine aufkommende Wut abzuschütteln. Wäre der Nachtexpress pünktlich gewesen, dann hätte dieses Schicksal gar den Bonner Hauptbahnhof ereilt!
Sax hatte in seinem geheimen Leben schon viel Leid gesehen, natürlich auch zahlreiche Tote und Verletzte, jedoch war es ihm nie gelungen, gegenüber solchen Bildern eine kalte Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Hier waren Menschen gestorben, Menschen, die eben noch mitten im Leben standen, Pläne hatten oder Pläne schmiedeten, mit Verwandten, Freunden, Vertrauten, Angehörigen, die nun um sie trauern und sie vermissen würden. Der innere Bezug zu Opfern einer Tat hatte für ihn immer eine sehr motivierende Bedeutung gehabt. Die professionelle Kaltschnäuzigkeit, die anderen Vertretern seiner Berufsgattung zu Eigen war, konnte er notfalls abrufen wie eine zweite Haut, aber dann war das nicht mehr wirklich „er selbst“. Er hatte sich stets dieses Minimum an Mitgefühl bewahrt.
„Inwiefern kann - und soll - unser Dienst da was tun?“, fragte er sodann heiser.
„Das Kanzleramt steht unter Druck. Wenn, wie zu befürchten ist, das ein terroristischer Akt war, dann wird man uns natürlich fragen, ob und warum die Auslandsaufklärung keine Hinweise auf so etwas gebracht hat.“
„Und? Hatte sie?“
„Auch während ihres Urlaubes waren wir tätig, Sax!“, meinte Stoessner etwas knurrend, wurde aber sogleich wieder sachlich. „Es gab in der letzten Zeit dutzende von Hinweisen, die darauf hindeuteten, dass ein Anschlag innerhalb unseres Landes stattfinden sollte. Aber nichts wirklich Greifbares. Wir haben mit Berlin gerechnet, mit Frankfurt, München, oder Hamburg, und die Sicherheit möglicher sogenannt weicher Ziele wurde überall auf unseren Ratschlag hin erhöht. Mit einem Anschlag bei Bonn oder überhaupt auf einen Personenzug hat niemand mehr gerechnet, seitdem diese Möchtegern-Attentäter vom Bonner Bahnhof dingfest gemacht wurden, und sich die Al-Quaida -Drohungen gegen Schnellzüge 2013 als heiße Luft entpuppten.“
Zwei Jahre vorher hatte man versucht, auf dem Bonner Hauptbahnhof eine Bombe zur Explosion zu bringen, aber das war glücklicherweise an dem Unvermögen der Attentäter gescheitert. Und es hatte beständig Hetzschriften gegeben.
„Islamisten?“ Freysing war skeptisch. Allzu schnell schob man jedes Attentat weltweit seit 2001 irgendwelchen islamistischen Verschwörern in die Schuhe.
„Es gibt noch kein Bekennervideo.“ stellte Stoessner fest. „Die sind mit so etwas ja normalerweise recht fix. Auf Al Djasira herrscht Schweigen…“
„Wer käme noch in Frage?“
„Radikale deutsche oder europäische Gruppierungen, zum Beispiel. Aber zur Zeit sind das alles Spekulationen.“
„Und, mein Part?“
„Fahren sie erst mal nach Bonn. Beim AMK hat´s auch ein paar Scheiben weggeblasen.“, erklärte Stoessner.
Die als „AMK“ – Amt für Militärkunde – oberflächlich getarnte Einrichtung war zu dem Zeitpunkt noch die personalführende Dienststelle des BND in Bonn-Mehlem in der Straße „Am Nippenkreuz“, welche für die militärischen Angehörigen des Dienstes zuständig ist und somit auch für Günter Freysing. Sobald der BND vollständig von Pullach nach Berlin gewechselt war, sollte das Amt im Rahmen eines politischen Ausgleichs nach München umziehen. Der Komplex wurde gemeinhin, da in Rheinnähe liegend, mit „Chiemsee“ tituliert. Es ist kein wirklicher „Tarnname“, da er sogar im Internet steht, er ist jedoch zutreffend. Dieser Hintergründe bewusst, gab Freysing nur ein knappes „Hm!“ von sich, bevor sein Chef fortfuhr.
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