Dann war sie auch schon ans Bett herangetreten. Bevor er es sich versah hatte sie ihre Slipper abgestreift, welche sie als einzige Kleidung außer dem Negligé trug, und es sich direkt bei ihm unter der Decke kuschelig bequem gemacht, während er bereits wieder das Licht im Zimmer löschte, um sie anschließend geschickt vom Rest ihrer überflüssigen Kleidung zu befreien.
„ Eener alleene is nich´ scheene. Aber eener mit eene und denn alleene, det is scheene!“, hauchte sie neckisch, als sie sich an ihn presste. Irgendwoher kannte er das Zitat, aber es fiel ihm nicht ein – er war völlig abgelenkt.
Sie glitt unter der Decke an ihm herunter bis fast zum Fußende, ihn dabei Abwärts bis zu den Lenden saugend küssend, und begann dann von dort aus mit ihrem Mund die unglaublichsten, wundervollsten Dinge zu veranstalten. Irgendwann meinte sie später einmal dirty , es sei ja schon etwas Paradox, wenn man einem „Flöter“ einen bläst …
Das kurze warnende Pfeifen des CityNightLine -Schnellzuges „Pegasus“ Nr. 40478, der den kleinen Nahverkehrsbahnhof von St. Goar auf seinem langen Weg von Zürich nach Amsterdam gegen 4:35 Uhr mit ausnahmsweise nur geringer Verspätung durchfuhr, freilich ohne dort anzuhalten, wäre im Schloßhotel nur bei geöffneten Fenstern wahrzunehmen gewesen.
Kaum hatte er das kleine Städtchen hinter sich gelassen, machte das bahneigene Begleitpersonal durch eine Lautsprecheransage auf den nächsten planmäßigen Halt aufmerksam. „ Meine Damen und Herren. In wenigen Minuten erreichen wir Koblenz!“ - Dies wurde noch je einmal auf Englisch und Französisch wiederholt.
Der etwa zweiunddreißigjährige Mann, der in einem der bei langer Fahrt nur leidlich bequemen Sleeperette -Sesseln im dritten vorderen Waggon des langen Zuges saß, war in Basel eingestiegen und hatte sofort seinen Platz mit Beschlag belegt, nachdem er den großen Koffer, den er mit sich führte, im Gepäckraum über den Sitzen unterbrachte. Seitdem hatte er den Platz nicht mehr verlassen und sich auch jedes menschliche Bedürfnis verkniffen.
Zwischen Freiburg und Karlsruhe döste er zuvor einige Stunden vor sich hin, schlief aber nie fest ein. Um sich schließlich weiter wachzuhalten, trug er kleine verdrahtete Ohrstöpsel auf beiden Seiten und hatte die fortgesetzte Fahrt über Heavy Metal Musik gehört. Gerade lief das Stück The Criterion aus dem Album Astron Black and the Thirty Tyrants der griechischen Band Nightfall. Die harten Klänge, zu deren Rhythmus er mit dem Kopf nickte und leicht die Hände bewegte, wären auch jenseits seines Sitzplatzes hörbar gewesen, allerdings schliefen die anderen Fahrgäste zu jener Zeit tief und fest; auch diejenigen, die in seiner Nähe saßen.
Ein Blick der Schweizer oder Deutschen Grenzbehörden in seinen ausgezeichnet gefälschten niederländischen Pass hätte den Namen Till Amerland zutage gefördert, aber niemand hatte sich recht um den etwas dicklichen, leicht stoppelbärtigen Gelderländer in seiner durchweg schwarzen Kleidung gekümmert, obwohl allein schon seine auffällige Erscheinung normalerweise eine Provokation für jeden Staatsbeamten darstellte.
Er trug um den Hals und in seinem Gesicht ebenso wie an seinen Fingern ein ganzes Arsenal billigen Schmucks, fast ausschließlich in silberner Farbe, darunter mehrere Ohrringe, sowie einen falschen Minibrillanten auf dem linken Nasenflügel. Das Haar war tiefschwarz gefärbt, obwohl in seinem Paß blond – aber der scheinbare Widerspruch passte zum Gesamtauftritt - strähnig und wirkte dabei äußerst ungepflegt, ähnlich wie auch seine stacheligen Augenbrauen. Bei den Augenhöhlen und Wangen hatte er mit Shadow-Make-up nachgeholfen, um absichtlich einen noch morbideren Eindruck zu erwecken.
Leute wie ihn kontrollierte man allerdings eher, wenn sie aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland einreisten, nicht, wenn sie durch Deutschland in die Niederlande hinein wollten, sofern man an den Grenzen innereuropäisch durchreisende überhaupt noch gelegentlich kontrollierte. So aber war er der abendlich oberflächlichen Aufmerksamkeit der eher gelangweilten Beamten beim Grenzübertritt nach der Abfahrt in der Nordwestschweiz entgangen.
Als im Rheintal die ersten Lichter Boppards draußen vorüberzogen und der Lokführer bereits mit dem Bremsmanöver begann, stand er auf, obwohl er das angebliche Ziel seiner Reise noch längst nicht erreicht hatte. Den großen Koffer, der ein gewisses Gewicht zu besitzen schien, nahm er mit. Bewegte sich eher langsam und so behutsam wie möglich im Waggon entlang nach hinten, um nicht bei einer schlingernden Zugbewegung in einer der zahlreichen Biegungen und Windungen der linken Rheinstrecke versehentlich zu stolpern und dabei einen der Passagiere zu wecken, welche in ihren Sesseln Nachtruhe hielten.
Nachdem er sich in der Zugtoilette am Ende des Waggons mit der Laufnummer 173 eingeschlossen hatte, stellte er den Koffer sofort quer über den niedrigen Abort und öffnete ihn mittels eines kleinen Schlüssels aus den Tiefen seiner schwarzen, enganliegenden Nietenjeans. Dann nahm er die Ohrstöpsel ab und legte sie mitsamt des leise weiter dudelnden MP-3-Player beiseite. Innerhalb der nächsten fünf bis sieben Minuten ging mit dem Mann eine komplette Verwandlung vor. Im Becken der Zugtoilette wusch er sich zunächst mit Hilfe einer speziellen Lotion aus dem Koffer eilig die schwarze Farbe aus Haaren und Augenbrauen, sowie das Make-Up aus dem Gesicht. Zuletzt entfernte er noch den Schmuck, der lediglich aufgeklebt oder angehaftet gewesen war. Den Stoppelbart beseitigte er fast in Windeseile mit einem sehr geräuscharmen Akkurasierer. Dabei blickte er zweimal auf seine einfache analoge Armbanduhr, schien aber unbesorgt.
Die Haarfarbe war nun dunkelblond mit einem leichten Stich ins rötliche, und er wirkte allein schon nach dieser Veränderung vertrauenserweckender als zuvor. Sein Gesicht strahlte alllerdings keineswegs Freundlichkeit aus; es wies einen schon fast grausamen Mund mit schmalen Lippen auf, die Augen waren hell und ohne die ebenfalls entfernten Kontaktlinsen beinahe als farblos zu bezeichnen. Sie lagen eng und schmal beim sich hervorhebenden Ansatz einer kurzen Nase. Die Wangen, vorher durch die dunkle Farbe eher eingefallen wirkend, machten nun einen ganz normalen Eindruck.
Seine Jeans, die Jacke und sein langärmliges etwas verschwitztes Shirt wichen gepflegter und gebügelter Kleidung aus dem Koffer, und auch seine schwarzen Halbschuhe wurden im engen, wackeligen Abteil in allerkürzester Zeit durch braune Slipper ersetzt. Er ging bei allem schnell und präzise, ohne hektische Nervosität, vor – eben so, als habe er alle einzelnen Handgriffe hundertfach geübt. Der schwere, breite Lendengurt mit einer Polsterung, die ihn dicklich hatte erscheinen lassen, verschwand ebenso wie die nicht mehr benötigte Kleidung im Koffer. Dafür förderte er einen beigen Mantel mit breitem, hochklappbarem Kragen und zwei großen Knopfreihen zu Tage, den er überstreifte und schloss. Bevor er auch ganz oben zuknöpfte, fasste er in die geräumige innere Brusttasche und zog ein schmales Etui hervor, das einen Ausweis und einen EU-Führerschein beinhaltete. Die ebenfalls falschen niederländischen Dokumente, die er ab jetzt verwendete, lauteten auf den Namen „Teun Andergast“ mit Wohnsitz in Apeldoorn, das Bild in beiden Papieren entsprach seiner gegenwärtigen Erscheinung. Sie waren nicht von minderer Qualität als die zuvor benutzten. Schnell steckte er das Etui wieder zurück und schloss auch den letzten Mantelknopf.
Er sah nun so aus, wie man sich einen Handelsreisenden nach einer sehr stressigen Arbeitswoche vorstellte, jedoch waren die Handgriffe, die nun folgten, um einiges bedeutsamer, als es das Sortieren von Warenmustern zu sein vermochte. Mit einem speziellen Kabel aus dem Koffer verband er zunächst eine entsprechende winzige Buchse seines abgelegten Lendengurtes mit dem MP-3-Player. Auf diesem betätigte er den Icon für die digitale Laufzeitmessung und stellte ihn auf den Wert 0000 zurück. Dann drückte er auf das Play -Symbol und stellte die Lautstärke so weit herunter, dass die Musik nur noch sehr, sehr leise überhaupt zu hören war. Alles lag schließlich im Koffer, den er nun sorgsam wieder verschloss und in eine Ecke der Toilette stellte, sodass er auch von heftigerer Zugbewegung nicht mehr in Mitleidenschaft gezogen werden konnte.
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