In einem naheliegenden Fabrikkomplex barsten hingegen gleich bei der Explosion alle der Strecke zugewandten Fenstergläser samt ihrer dünnen Sprossen nach innen. Der leitende Mitarbeiter der dünnen Sonntagmorgenschicht, niedergeworfen durch die Druckwelle und blutig vom herumfliegenden messerscharfen Glas, stand mühsam auf, hinkte zur Wand, drückte den Nothalt -Knopf der Maschinenanlage und schaltete, obwohl sichtlich geschockt, geistesgegenwärtig die hauseigene Dachsirene für den Katastrophenschutz ein, deren lautes Jaulen kilometerweit zu hören war, kaum dass die Waggons zur Ruhe gekommen waren.
Es war jedoch noch nicht zu Ende.
Das Attentat war sehr gut getimt. Nichts schien dem Zufall überlassen worden zu sein, abgesehen von der leichten Verspätung des Expresszuges.
Der entgegenkommende Flüssigkeitstank-Güterzug aus dem Ruhrgebiet, der eine halbe Million Gallonen Cyclohexan-Aceton zu einem Kunststoffwerk nach Mannheim bringen sollte, durchfuhr den Bonner Hauptbahnhof kurz vor dem Moment des Anschlages mit gemäßigter Geschwindigkeit und passierte wenige Minuten später, bereits wieder etwas beschleunigend, den südlicheren Stadtteil Bad Godesberg. Als der laute Explosionsknall den Lokführer erreichte und dieser das Chaos erblickte, das sich vor ihm entwickelte, reagierte er, die Augen weit aufgerissen, sofort mit einer Vollbremsung, konnte aber dem vorbestimmten Schicksal nicht entrinnen. Das Kreischen der Bremsen auf dem Stahl der Räder war durchdringend zu hören.
Mit noch fast sechzig Stundenkilometern prallte der Güterzug auf den Triebwagen des Nachtexpress, der nun in seiner Fahrspur lag und kam selbst zum Entgleisen, während linkerhand gerade die Fassade des alten Bahnhofes zusammenstürzte. Die Tankwagen liefen aus den Gleisen, überschlugen sich seitlich, durchbrachen die Umzäunung des Bahnhofsbereichs und rissen sofort an mehreren Stellen auf. Flüssigkeiten liefen erst schnell aus und entzündeten sich an den Funken der gerissenen Oberleitungskabel. Es gab keine weitere Explosion, aber die sich anschließende rasende Feuerhölle von mehreren hundert Grad verbrannte im Nu alles und jeden, der sich im Bereich des Infernos befand.
Durch die einsetzende Hitzewelle bogen sich selbst bei dem Beetle an der nun bereits nicht mehr existenten Schranke, der bei der Explosion seltsamerweise noch keinen besonderen Schaden erlitten hatte, die Scheiben nach innen, warfen Blasen und platzten schließlich nach innen auf. Der darin sitzende Fahrer war sofort tot und verbrannte im Nu. Erst dann fing das Fahrzeug selbst vollständig Feuer, bis schließlich sein Tankinhalt in die Luft flog.
Fast alles, was in der direkten Umgebung brennbar war, stand schließlich in lodernden Flammen, und alles, was nicht selbst brennbar war, brannte und schmolz durch das chemische Gemisch, das sich darüber ergossen hatte. Beißender Rauch breitete sich schnell aus und hüllte die schreckliche Szenerie zusammen mit den Flammen in ein gespenstisches Spiel aus Licht und Schatten, dem das wenig später folgende Morgengrauen das Seinige hinzu fügen würde.
Bereits sehr kurze Zeit nach der Explosion und den einsetzenden Sirenen waren aus allen Richtungen unzählige Martinshörner der herbeieilenden Rettungskräfte zu hören, sowie die weiteren Katastrophenschutzsirenen der Umgebung, welche sich anschlossen, um die Bevölkerung zu warnen. Das Heer an Feuerwehren, die bald großflächig mit Schaum stundenlang die unzähligen Brände der Umgebung bekämpften, war beeindruckend. Bevor man allerdings im direkten Bereich der Bahnstrecke löschen und dann Verletzte oder Tote bergen konnte, mussten die Starkstromleitung abgestellt und weitere Züge gestoppt werden. Es gab schnell einen Rückstau bis Köln und Koblenz.
Dort, wo die Fenster der Häuser geborsten oder die Bausubstanz anders beschädigt war, begann alsbald eine eilige Evakuierungsaktion. Die Menschen darin wurden zitternd vor Angst oder starr vor Schreck aus ihrer vertrauten Umgebung geholt und in den umliegenden Sporthallen und Schulen untergebracht. Dort richteten Rotes Kreuz, Johanniter- und Malteserhilfsdienst erste Notunterkünfte ein. Rettungsfahrzeuge aus den städtischen und ländlichen Krankenhäusern transportierten in Permanenz diejenigen ab, die etwas mehr Glück gehabt hatten. Aus dem Nachtexpress waren es kaum mehr als eine handvoll Personen - unter ihnen befand sich auch die sehr schwer verletzte hübsche junge Frau mit dem menschlichen Bedürfnis, die aus dem Zug geschleudert worden war und die nur wie durch ein Wunder überlebt hatte.
Auf der gesamten linken Rheinschiene ging zwischen Bonn und Remagen gar nichts mehr, und das sollte sich auch in der nächsten Zeit erst einmal nicht ändern. Die Aufräum- und Reparaturarbeiten würden wenigstens drei bis vier Wochen in Anspruch nehmen, wie man später veranschlagte.
An diesem Morgen klingelten zahlreiche Handys im gesamten Rhein-Sieg-Kreis, um Ärzte mit oder ohne Bereitschaft zu wecken und zu ihren Arbeitsstellen zu rufen. Diejenigen beiden, die als Gäste der Hochzeitsfeier mit an Freysings Tisch gesessen hatten, waren auch darunter. Alle Mediziner wurden gebraucht! Polizeikräfte aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hatten eine halbe Stunde später das Gebiet weiträumig abgesperrt und leitete den Durchgangsverkehr um. Mit Mühe gelang es den uniformierten Beamten auch, die sich schnell mehrenden unvermeidlichen Schaulustigen zurückzuhalten, die sich dem Kerngebiet nähern wollten, ohne Rücksicht auf eigene Verletzungen oder die Behinderung der Rettungseinheiten.
Im Radio und später auch im Fernsehen wurden die laufenden Sendungen unterbrochen und eindringliche Hinweise gegeben, Türen und Fenster geschlossen zu halten - beinahe sarkastisch in Hinblick auf die vielen geborstenen Scheiben - und die Wohnungen nicht zu verlassen, soweit nicht zur Evakuierung aufgerufen war. Es brauchte nicht viel Zeit, bis die gesamte Medienwelt ihre Vertreter persönlich vor Ort entsandt hatte. In der „Bundesstadt“ Bonn waren immer noch die wichtigsten Agenturen, Sender und Zeitungen der Welt mit Büros ansässig, sodass die Kunde von dem, was in der ehemaligen Bundes haupt stadt geschehen war, noch am Morgen vielsprachig um den Globus ging.
Bereitschaftspolizei wurde eingesetzt, natürlich auch Bundespolizei, die seit der Umgliederung des Bundesgrenzschutzes für die Bahnanlagen zuständig war, ein Kontingent der Koblenzer Bundeswehrkaserne in Arbeitsuniformen rückte auf Anfrage des NRW-Innenministers an, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen.
Das THW und Spezialisten der Bahn kamen gegen Mittag mit schwerem speziellen Bergungsgerät, mussten aber mit der Arbeit warten, bis das Eisenbahn-Bundesamt und das Bundeskriminalamt ihre Untersuchungen vor Ort abgeschlossen hatten. Trümmerteile wurden als Beweismittel sichergestellt und abtransportiert. Einige sehr alte Menschen, die in der Umgebung wohnten, meinten, es sähe aus wie nach dem Krieg , obwohl ihre konkreteren Erinnerungen an jene Zeit inzwischen allmählich dem dementen Vergessen anheimfielen.
In den folgenden Stunden des Sonntags begann eine oft geplante, aber bisher derart nie zum Einsatz gekommene Notfallroutine, die von Professionalität und Effektivität der koordinierten Einsatzkräfte geprägt war. Trotz des ganzen entstandenen Chaos herrschten notwendiger Überblick und sinnvolles Handeln. Frühzeitig stand fest, dass es sich bei dem „tragischen Unfall“, den man im ersten Moment vermutet hatte, um einen gezielten Bombenanschlag gehandelt hatte. Über die tatsächlichen Hintergründe konnten seitens der Presse und der anderen Medienvertreter jedoch zunächst nur vage Vermutungen angestellt werden. Sehr schnell gerieten die Salafisten in Verdacht, Beweise gab es jedoch nicht.
In zahlreichen Web-Blogs wurde zeitnah über das Ereignis debattiert. Bald meldeten sich radikale Kreise, die es in ihrem jeweiligen Sinne auszuschlachten wussten, die Tatsachen verbogen und je nach Gesinnung Mehr Polizei, Mehr Rechtsstaat, weniger Ausländer, Alle Macht dem Volke, Todesstrafe für die Mörder, Transparenz der Politik, Keine Gifttransporte durch Wohngebiete, Abschaffung der Demokratie, Raus mit den Mullahs oder auch die Legalisierung von Marihuana für eine friedlichere Welt forderten. Eine Gruppierung namens Bogida war dabei besonders lautstark zu vernehmen. Wie zumeist gab es oft einen noch sinnvollen Hauptkommentar, mehrere weniger sinnvolle, zum Teil auch abstruse Antworten, dann zwanzig bis dreißig Profilierer, die sich über Wortwahl und Grammatik der Schreiber ausließen, und schließlich welche, die das Ganze ins Lächerliche zogen. Die Deutsche Bahn selbst kam bei den ganzen Attacken ausnahmsweise einmal glimpflich davon. Ein formelles Bekennerschreiben oder Bekennervideo blieb allerdings aus.
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