Auf eine zweite Absperrung stieß Freysing kurz hinter der Landesgrenze nach Nordrhein-Westfahlen am Ortseingang Bonn-Mehlem. Dort wurde genauer kontrolliert, und er musste seinen Dienstausweis vorzeigen, um weiterfahren zu dürfen. Dieser lautete ganz offiziell auf sein Amt, den Bundesnachrichtendienst, er führte ihn stets mit sich, wenn er innerhalb der Republik unterwegs war, auch wenn er Urlaub hatte. „Allzeit Bereit!“ - altes Pfadfindersprichwort.
Die innerste Abriegelung befand sich unmittelbar beim Anschlagsort im Umkreis einiger hundert Meter um den ausgebrannten Bahnhof, aus dessen näheren Bereich man die dort wohnhaften Menschen evakuiert hatte. Auch diese konnte er legitimiert passieren, während andere abgewiesen wurden. Der Ort selbst wirkte hier beinahe wie eine Geisterstadt, allerdings hatten sich doch inzwischen mehr ortsansässige Schaulustige eingefunden und wurden von Absperrgittern und Bereitschaftspolizei davon abgehalten, noch weiter vorzudringen.
Nördlich des großen Kreuzungsbereichs an der Remagener- und Mainzer Straße auf der Bundesstraße, sowie in Seitenstraßen zum Rhein hin, auf Wiesen und kleinen Plätzen, hatten sich inzwischen die Hilfs- und Aufräumkräfte eingerichtet und eine Operationsbasis aus größeren Zelten aufgebaut. Dort in der Nähe hielt Freysing an und legte eine Parkscheibe mit dem Bundesadler ins Armaturenbrett, die ihn neutral als Beauftragten der Bundesregierung auswies.
Das Chaos war allgegenwärtig. Er brauchte, ausgestiegen, eine Weile, sich einen ersten Überblick zu verschaffen, denn es herrschte eine hektische, jedoch sehr geordnete Betriebsamkeit, in der unterschiedlich Uniformierte in Schutzkleidung und teilweise auch noch mit Atemschutz hin und her liefen, Dinge wie klobiges Schweißgerät oder anderes größeres Werkzeug anschleppten oder kleinere Trümmer wegtrugen, die auf militärische und THW-LKW´s verladen wurden.
Auf den Parkplätzen zweier naher Supermärkte die Kreisstraße hinauf, deren Fensterscheiben ebenfalls zerstört und nun bereits durch große Holzplatten ersetzt waren, hatte man Notunterkünfte aus Acht-Mann-Zelten für die zahlreichen evakuierten kaum oder unverletzten Menschen der beschädigten Häuser geschaffen. Die Turnhallen eines Schulkomplexes waren zusätzlich requiriert worden, hier wie dort kümmerten sich die kirchlichen und zivilen Hilfsorganisationen mit Decken, Wasser, Nahrung und tröstenden Worten um die Betroffenen.
Freysing besorgte sich bei den Hilfskräften einen Mund- und Augenschutz und näherte sich dann der Gleisanlage. Der Anblick des ehemaligen Stadtteil-Bahnhofes, oder dem, was von ihm übrig war, wirkte erschütternd. Zwar waren die Feuer sämtlich gelöscht, die man in der Fernsehsondersendung noch hatte sehen können, und nur vereinzelt stiegen noch kleine Rauchsäulen auf – jedoch herrschte nach wie vor ein gewaltiges Durcheinander an Trümmern aus allen Materialien.
Die ausgebrannten verschmolzenen Skelette der scheibenlosen Personenwaggons und der zerborstenen Kesselwagen des Güterzuges lagen wild herum und erinnerten in der Tat an die Luftangriffe auf deutsche Großstädte und Versorgungszüge im zweiten Weltkrieg. Überall stank es recht ätzend nach verbrannten Kunststoffen, was Freysings empfindlichen Geruchssinn schmerzte. Weite Teile des Areals waren mit Löschschaum bedeckt, und nur vorsichtig arbeiteten sich die Hilfskräfte voran, um mit der Bergung der weitestgehend unkenntlichen Toten im Zentrum des Anschlages fortzufahren.
Im Nachtzug selbst hatte es nur wenige Überlebende gegeben, die meisten weiteren Toten und Schwerverletzten kamen aus der Schicht der kleinen Fabrik, oder waren Bewohner der nah an der Bahnlinie stehenden Häuser und Fahrzeuginsassen von der parallel verlaufenden Bundesstraße gewesen. Sorgfältig mit den Händen arbeitend, um nicht vielleicht doch irgendwo ein noch lebendes Opfer zu übersehen, beschäftigten junge Soldaten mit bleichen Gesichtern und in Grünzeug sich damit, den Schutt des zusammengebrochenen Bahnhofsgebäudes abzutragen.
Freysing hatte den Dienstausweis so in die Brusttasche seiner Anzugjacke gesteckt, das die amtliche Seite nach außen wies. Es wirkte eindrucksvoll, im Inland waren seine Befugnisse allerdings eher eingeschränkt bis nicht vorhanden. Den so angebrachten Ausweis betrachtete sich nun eine der höherrangigen Einsatzkoordinatorinnen bei dem ehemaligen beschrankten Bahnübergang im Zentrum des Anschlages misstrauisch. Das Autowrack dort, der VW-Beetle, war nebst seines verbrannten Insassen bereits entfernt worden.
„Bundesnachrichtendienst!”, stellte sie fest und hob die Augenbrauen. Sie war eine Frau Ende dreißig mit stämmigem Auftreten und wettergegerbten schönem Gesicht, wie man es oft bei Menschen antrifft, die bei jeder Temperatur viel in der freien Natur unterwegs sind. Ihre Haare konnte man landläufig als „straßenköterblond“ bezeichnen, sie waren vorn einigermaßen kurz gehalten und hinten, soweit man es erkennen konnte, zusammengebunden. Der Feuerwehrschutzanzug ließ ihre weiblichen Rundungen kaum zur Geltung kommen, und hinter dem Mundschutz konnte Sax ihren spöttischen Gesichtsausdruck gerade einmal erahnen. Dafür blickte er durch die Schutzbrille auf ihrer breiten, sommersprossigen Nase in zwei große, weite stahlgraue Augen, die wie seine eigenen schon viel gesehen haben mochten.
„So steht es auf dem Ausweis!“, entgegnete Sax lächelnd im Versuch, sie etwas aufheitern zu wollen. „Mein Name ist Günter Freysing. Günter ohne H. Freysing mit Ypsilon. Meine Freunde nennen mich Gunny!“. Er sprach es englisch aus, wie die Abkürzung von „Gunnery Sergeant“ . Ein Relikt seiner Zeit in den USA.
„Benzing. Eva-Maria. Mit Bindestrich. Meine Freunde nennen mich übrigens Oberbrandmeisterin Benzing.”, sagte sie ernst, auf seinen Flachs dann aber nicht weiter eingehend. Der Nachname stand auch zusammen mit der Abkürzung ihres Titels auf einem schmalen Schild ihres leuchtend orange-roten Anzuges.
„Davon bin ich überzeugt! – Angenehm, Frau Oberbrandmeisterin. “
Bevor er jedoch weitersprechen konnte, hielt sie ihn mit einer fast unwirschen Handbewegung davon ab und rief, indem sie den Mundschutz kurz lupfte, laut ein paar Anweisungen in Richtung zweier untergebener Kollegen, die gerade mit einem der vierundzwanzig entgleisten, geborstenen und nun sehr verkohlten Tankwagen beschäftigt waren, welche sich in der Umgebung des Bahnhofes bis in eine schmale Industriestraße hinein verteilt hatten; dort weitere Schäden verursachend. Schließlich wandte sie sich wieder ihm zu.
„Na schön, Herr Freysing mit Ypsilon vom BND. Sicher ist es wichtig, dass sie hier sind, aber wie sie sehen können, ich habe alle Hände voll zu tun – also fassen sie sich bitte kurz!“
„Ich bin hier, um mir einen Überblick zu verschaffen.“, sagte er ernst, wohl inzwischen ahnend, dass er mit Höflichkeiten bei ihr weit weniger weit kommen würde als mit Professionalität. Daher schaltete er um. „Aus Sicht der Feuerwehr, wie ist es dazu gekommen?“ - Er ließ seiner Frage eine ausladende Armbewegung über das Chaos ringsherum folgen.
„Was denken Sie?“, fragte sie jedoch, fast schon etwas ungehalten, zurück. Er schrieb es ihrer Anspannung angesichts der Katastrophe zu.
„Eine herkömmliche Bombe kann so etwas doch nicht anrichten!“
„Hier sind zwei Züge hochgegangen!“, stellte sie beinahe lakonisch fest. „Der eine ein Nachtzug, vierzehn Waggons mit vielen wohl noch schlafenden Fahrgästen, die jetzt fast ausnahmslos tot sind, der andere ein Güterzug mit vierundzwanzig mittleren Kesselwagen, voll mit Cyclohexan-Aceton.“
Freysing überlegte, was er über den Stoff wusste. Chemie war nicht unbedingt seine starke Seite. Aceton aber, in seinem Gemisch mit Cyclohexan, ist reizend und leicht entzündlich bei einem Siedepunkt von kaum mehr als 50 Grad Celsius. Es wird in der kunststoffverarbeitenden Industrie verwendet. Soweit war er auf dem Laufenden und wusste immerhin damit, dass es nicht gesund ist, wenn das Zeug mit Feuer in Verbindung gelangt.
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