„Von alleine sind die Züge ja wohl nicht entgleist.“ stellte er fest. „Also Bomben, wie man allgemein vermutet.“
„Da müssen sie ihre Kollegen vom BKA oder LKA oder vom Bundesamt fragen, die kümmern sich um die Details. Aber wenn sie mich fragen, war´s definitiv nur eine Bombe… - sehen Sie da vorne den Krater im Boden, wo die Schienen weg sind? Das kann so nur ein einzelner, konzentrierter Sprengsatz anrichten. Der allerdings hatte es in sich, glauben sie mir!“
In der Tat gab es ein Stück weit hinter der Verwüstung beim ehemaligen Bahnhof in südlicher Richtung eine vollständige Zerstörung des Gleisbettes und der direkten Umgebung - mit einem tiefen Kraterloch beinahe wie von einer Fliegerbombe, in das ein Waggon des Personenzuges halb auf der Seite liegend hinein gerutscht und dort schließlich im weiteren Verlauf des Anschlages ausgebrannt war. Freysing machte dort ein paar Fotos mit dem IPhone, während die Oberbrandmeisterin bereits wieder mit der Koordination ihrer Kollegen beschäftig war.
´Frauen sind Katastrophen… gewachsen!´, dachte er laut, dann ging er langsam durch das Szenario, weiter fotografierend, wobei er darauf achtete, mit seinen Straßenschuhen einen Bogen um die Stellen mit dem Löschschaum und die schmierigen geschmolzenen Trümmer zu machen. Das war gar nicht so einfach, denn beides verteilte sich in großer Eintracht bizarr über das Gelände.
Vergeblich versuchte er, einen leitenden Beamten des BKA ausfindig zu machen, irgendwann teilte man ihm mit, dass dieser wohl mit einigen Trümmerstücken weggefahren sei, um sie zum Labor ins rechtsrheinische Bonn-Beuel zu bringen, wo unter anderem eine Außenstelle des Grenzschutzes und die Kriminalpolizei ansässig sind. Innerhalb dieses Geländes befindet sich auch ein ausgezeichnetes kriminaltechnisches Labor. Dort wollte man sich nähere Informationen über den verwendeten Sprengstoff beschaffen. Er überlegte, ob er dorthin fahren sollte, entschied sich aber anders, da die ersten Ergebnisse sicher noch eine Weile Zeit brauchten. Danebenstehen und zuschauen bei der Analyse brachte da nichts.
Schließlich traf er beim Herumgehen auf einen Mann um die Fünfzig mit lockigen weit gefächerten braunen Haaren vom Eisenbahnbundesamt in Köln, der wie sein ihn begleitender hagerer junger Assistent nicht begeistert über den Sonntagseinsatz war - und die dann ähnlich wie die Oberbrandmeisterin, wenn auch aus anderen Gründen, nur knappe Antworten auf die Fragen gaben, die Freysing ihnen stellte. Sie teilten die Ansicht der Feuerwehreinsatzleiterin, dass es sich um sehr gut geplanten, sehr präzise koordinierten Sprengstoffanschlag handeln müsse.
Die Aufräumarbeiten schritten ganz langsam voran. Freysing konnte hier nichts weiter tun, alles lag in fachmännischen Händen. Er sah auf die Uhr und überlegte, dass er sich aber eigentlich noch Zeit lassen konnte, zum AMK zu fahren. Er besah sich daher die weitere Umgebung auch jenseits der Gleisanlagen. Zur Rheinseite hinunter war die Beschädigung weniger dramatisch als in den oberen Ortsteilbereich hinein, die Druckwelle hatte sich ihren Weg gesucht.
Den in der Umgebung befindlichen Medienvertretern ging Sax geflissentlich aus dem Wege. Wenn diese spitz bekamen, dass der BND an der Sache dran war, witterten sie wahrscheinlich sogleich eine große Hintergrundstory. Sein IPhone brummte, während er sich weiter umsah. Sax blickte auf die Anzeige und sah, dass Susanne versuchte, ihn anzurufen. Er nahm das Gespräch nicht an. Sicher hatte auch sie die Nachrichten gesehen. Was sollte er ihr sagen? Sie wusste ja nicht, was er in Wirklichkeit beruflich tat, und er würde es ihr auch nicht sagen können. Es war nicht die Zeit für Plaudereien.
Beim nächsten Brummen kurz danach war es eine SMS von Silke. Sie schrieb, da sie ihn offenbar aufgrund seiner Nachricht auf „beruflicher“ Reise wähnte, dass im Moment im Rheinland gerade die Welt unterginge. „Vermisse dich sehr und hoffe auf ein baldiges Wiedersehen!“, lautete der letzte Satz des Textes.
´ Was geschehen soll, wird geschehen…´, dachte er.
Als er gegen 15:30 Uhr mit dem Z1 am Standort „Chiemsee“ eintraf, fand er dort nicht nur einen Polizei-Streifenwagen auf dem Besucherparkplatz außerhalb des Geländes vor, sondern auch etliche Bedienstete in Zivil, die am Morgen geweckt und aus der Wochenendfreizeit geholt worden waren, um die Aufräumarbeiten in Angriff zu nehmen. Schließlich waren in dem Amt auch Geheimdokumente gelagert, die nicht in fremde Hände geraten sollten, aber diesbezüglich bestand wohl keine konkrete Gefahr.
Freysing erblickte bereits im Vorbeifahren das hinter einer hohen Mauer und Hecke liegende Gebäudeareal, in dessen beiden Stockwerken oberhalb der Mauerkrone zur Explosionsseite hin ein paar Fenster zerborsten waren oder deren Scheiben zumindest kleine Risse zeigten. Die Tore im Stahlzaun, welche den Zufahrtsbereich markierten, waren geöffnet, es gab allerdings eine heruntergelassene schmale Halbschranke sowie einen Unteroffizier mit Kordel und einen Mannschaftsdienstgrad, jeweils mit Maschinenpistolen bewaffnet, daneben.
Mit seinem Dienstausweis hatte Sax keine Probleme, den sehr beflissenen Wachtposten zu passieren und in den Sicherheitsbereich einzufahren; außerdem lag immer noch das Schild mit dem Bundesadler deutlich sichtbar hinter der Windschutzscheibe. Er stellte den Z1 auf dem Parkplatz des Amtes ab, stieg aus und ging zum Hauptgebäude hinüber. Videokameras blickten allenthalben von den Doppelmasten auf die Flächen zwischen den Gebäuden herunter, es gab wohl keinen Zentimeter, der hier nicht überwacht wurde. Generalmajor Stoessner war, wie er schnell in Erfahrung brachte, noch nicht eingetroffen – schlechtes Wetter in Berlin hatte den Abflug des Hubschraubers verzögert. Daher ging er zunächst auf einen Orangensaft in die Kantine, die zur Verpflegung der Helfer außerplanmäßig geöffnet hatte und gratis belegte Brötchen sowie Getränke feilbot. Die Stimmung dort war bedrückt bis erschüttert.
Die Beschädigung der Gebäude sah allerdings außen schlimmer aus, als sie es innen tatsächlich war. Es galt zumeist lediglich Glasscherben zu beseitigen und alsbald neue Scheiben einzusetzen; herumfliegende Splitter hatten hier und da die Raufasertapete in Mitleidenschaft gezogen und in einem der Büros, das Freysing auf seinem Weg zur Kantine gesehen hatte, Material vom Schreibtisch gefegt. Ein Pirelli-Kalender an einem dünnen Nagel war halb zerrissen und zeigte einen derart aufgeschlitzten, dabei hübschen und neckisch lachenden weiblichen Nackedei. Es wirkte sehr grotesk.
Im Großen und Ganzen waren die Innenräume nicht betroffen, erst recht nicht, je tiefer sie lagen und je weiter sie von der Richtung der hier schon sehr gemäßigten äußeren Druckwelle entfernt gelegen waren. Ein eher bunkerähnliches, flaches Gebäude des Areals mit kleineren und sehr dicken Fenstern war völlig verschont geblieben. Zumindest gab es hier im Amt keine Verletzten oder gar Toten zu beklagen, sondern lediglich ein leidlich erschrecktes Dreimannteam der obligatorischen Bundeswehr-Nachtwache.
„ Sind wir hier in Kundus“ , soll einer von ihnen kurz nach der Explosion geäußert gehabt haben. Ein anderer, der wirklich dort war, konnte ihn aber beruhigen.
Der Hubschrauber, der den uniformierten Generalmajor aus der Bundeshauptstadt an den Rhein brachte, landete, als draußen bereits die Sonne langsam hinter dem Hügelland verschwand, auf der Bonner Hardthöhe, von wo aus Stoessner unverzüglich mit einem Dienstwagen zum Geheimdienststandort gefahren wurde. Sogar an jenen Absperrungen, an denen Polizisten und nicht Soldaten den Dienst versahen, wurde knapp salutiert, als die Mercedes-Limousine sie passierte und sie erkannten, dass ein hochrangiger Offizier im Fond saß.
Gegen 17:15 Uhr trafen sich Freysing und Stoessner in einem kleinen, unbeschädigten Konferenzraum des AMK zur weiteren Besprechung. Zunächst gab der Generalmajor seinem Agenten eine Übersicht über die gesamte terroristische Sachlage, obwohl Sax aufgrund seiner regelmäßigen speziellen Tätigkeit für die Abteilung TE sicher kein Grundlagenseminar benötigte.
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