Schließlich telefonierte Stoessner mit der Kripo-Dienststelle im Ortsteil Ramersdorf und ließ sich dort mit dem BKA-Beamten verbinden, der die weiteren Untersuchungen leitete. Begleitet von einigen „Aha´s!“ und „Ach-so´s“ des Generalmajors sprachen sie fast eine Viertelstunde miteinander, während derer Freysing erwartungsvoll mithörte. Obgleich der Lautsprecher angeschaltet war, verstand Sax nur jedes zweite Wort, weil Stoessner dem Beamten immer wieder ins Wort fiel, während letzterer selbst sich lediglich recht leise und zaghaft ausdrückte. Der BKA-Mann schien wohl auch nicht begeistert von der „Einmischung“ des BND.
„Bei dem Sprengstoff handelt es sich um etwas relativ Neues auf der Basis von Diaminodinitroethylen!“, sagte der Generalmajor schließlich mit bedeutsamem Gesichtsausdruck zu seinem Agenten, nachdem das Gespräch beendet war. Er sprach den chemischen Begriff dabei glatt und flüssig aus.
„Dia – was ?“, stutzte Sax und dachte dabei: Das ging ja schnell!
„Di-amino-di-nitro-ethylen. FOX-7, wenn ihnen das besser gefällt. Oder eine Weiterentwicklung davon. Ein experimenteller Sprengstoff. Die Schweden haben es ursprünglich erfunden, wenn ich richtig informiert bin, aber die weltweite Produktion hält sich in Grenzen, da die Kosten relativ hoch sind. Zumindest die Schweizer haben damit gute Erfahrungen im Bergbau und beim Geröll-Lawinen-Engeneering gemacht.
„Sie wollen mir jetzt nicht erzählen, die Schweizer hätten einen Attentat auf unseren Zug unternommen, oder, Herr Generalmajor?“
„Natürlich nicht. Ich sage nur, dass der Sprengstoff dort herkommen könnte.“
„Vermissen die denn welchen?“
„Das sollten wir herausfinden. Oder besser gesagt, Sie! Wenn das Zeugs nicht geklaut wurde, dann muss es jemand gekauft haben, und das war sicher nicht billig. Sowas lässt sich ja zurückverfolgen. Und der Zug kam aus der Schweiz!“
„Wallner?“, fragte Freysing nach kurzem Nachdenken vorsichtig. Stoessner wusste, was sein Agent meinte, und nickte.
„Der ist doch jetzt Leiter beim NDB, nachdem sie die Ressorts für Analyse und Prävention mit dem Strategischen Dienst zusammengefasst haben. Wenn einer was weiß, dann er.“
Der „Nachrichtendienst des Bundes“, kurz NDB, ist der Geheimdienst der Schweiz. Selbst personell nicht sehr groß, aber effektiv. Er arbeitet ganz offiziell weltweit mit über hundert ähnlichen Behörden anderer Staaten zusammen und besitzt daher Kontakte in verschiedenste Richtungen, die oft sehr nützlich sein können. Er ist dem eidgenössischen Departement für Verteidigung und Bevölkerungsschutz unterstellt. Der Chef und damit oberster Ansprechpartner für den BND dort war seit 2010 ein Walliser namens Konrad Wallner. Sax kannte ihn nicht persönlich, sondern nur dem Namen nach, aus irgendeinem Memo.
„Ich kümmere mich drum.“, meinte Freysing dann. „Werde ihn aber wohl erst morgen erreichen können. Auch bei den Eidgenossen ist jetzt Sonntagabend! - Gibt’s schon was in Hinblick darauf, wie die Bombe in den Zug gekommen ist?“
„Nach Angaben des BKA nicht. Es gibt kaum Überlebende aus dem Zug, viele Leichen sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, und es wird sehr schwer sein, herauszufinden, ob es vielleicht ein Selbstmord-Attentat war.“
„So bescheuert sind doch nur die Islamisten. Wenn es bisher kein Bekennervideo gab, steckt eher jemand anderes dahinter. Bezahlte Terroristen sprengen sich aber nicht selber in die Luft. Da ist jemand in den Zug gestiegen, hat die Bombe platziert, und ist rechtzeitig wieder raus.“
„Eine ziemliche organisatorische Meisterleistung, wenn man alles zusammennimmt.“
„Geraten Sie bloss nicht ins Schwärmen, Herr Generalmajor!“, meinte Sax, fast ärgerlich.
„Zeitzünder also.“, sinnierte Stoessner, dem der Unterton nicht entging, und der daher kurz den Mund spitzte. Zwischen ihm und seinem Agenten bestand eine gewisse Hass-Liebe, er achtete dessen Erfahrung und Kompetenz, hatte aber gelegentlich Probleme mit dessen „antiquierten“ Methoden, wie er es nannte.
„Wahrscheinlich. Funkfernzündung ist kritisch, die kann vorzeitig durch irgendein zufälliges Signal auf gleicher Frequenz ausgelöst werden. Und diese Konstruktionen über Telefon oder Internet sind auch nicht unbedingt sicher. Solche Signale lassen sich ja blockieren oder sogar fremdzünden. Das Ganze sieht allerdings, wie sie bereits sagten, sehr gut geplant und vorbereitet aus.“
„Blockieren… ja, wenn man sie rechtzeitig entdeckt.“, konterte Stoessner. „Aber dann könnte der Attentäter vorher in Frankfurt oder Koblenz ausgestiegen sein.“
„Das wäre naheliegend. Lässt sich überprüfen, oder?“
„Ich werde mit den Kollegen sprechen, da sollen sich die Landeskriminalämter in Rheinland-Pfalz und Hessen damit beschäftigen.“
„Und was sind ihre Pläne für mich?“, fragte Freysing. Stoessners Gesicht wurde ernst.
„Ich habe ihnen ein paar aktuelle Infos über Gruppierungen in die Cloud gelegt, die uns in der jüngeren Zeit aufgefallen sind. Die meisten davon werden sie kennen, aber einfach nochmal zur Auffrischung. Machen sie sich damit vertraut. Wir müssen herausfinden, was da gegebenenfalls schiefgelaufen ist mit unserer Auslandsaufklärung. Nach deren Informationen hatten wir mit einem Anschlag in einem der wirtschaftlichen Zentren zu rechnen, oder auch auf unseren Staatsbesuch von der Insel demnächst, aber gewiss nicht hier in Bonn. Das Kanzleramt sitzt mir im Nacken und es wird sicher keine drei Tage dauern, bis irgend so ein Armleuchter aus der politischen Szene sich profilieren will und einen Untersuchungsausschuss fordert. Dabei ist nicht einmal die Kanzlerin so blöd, mich ernsthaft zu fragen, was wir im Ausland eigentlich treiben.“
Unwillkürlich musste Freysing an Friedhelm von Lauenberg denken, verbiss sich aber einen entsprechenden Kommentar.
„Angenommen, die Ermittlungsergebnisse führen zu etwas, oder, besser noch, die Hinterleute lassen sich identifizieren. Was ist dann mein weiterer Auftrag?“
„Beseitigen Sie das Problem!“, sagte Stoessner kalt.
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Deutschland, Bonn. Montag, 13. Oktober 2014, Vormittag. Auf der Spur.
Günter Freysing verbrachte ebenso wie der Generalmajor die Nacht in einer einfachen Unterkunft für Militärangehörige auf der Bonner Hardthöhe.
Die wesentlichen Daten der verschiedenen Gruppierungen, die einen solchen Anschlag auszuführen interessiert, bereit und auch in der Lage erschienen, waren von Sax noch vor dem Schlafen aufgefrischt und verinnerlicht worden. Was vielen Menschen nicht bewusst ist: Es gibt seit eh und je stets eine ganze Reihe mehr oder weniger militanter Organisationen in Europa. Ihre Ziele sind völlig unterschiedlich – nur eines verbindet diese Gruppierungen: Der Wille, diese durch gewaltsame Maßnahmen oder Finanzierung derselben durchzusetzen. Gleichgültig, ob es dabei um Unzufriedenheit mit der politischen Situation oder uralte Erbfehden geht, muss dem freilich Einhalt geboten werden. Es ist eine Sissyphusarbeit, die ganze Heerscharen in- und auslandsgeheimdienstlicher Analytiker beschäftigt.
Ein paar alte, fast vergessene Bezeichnungen wie RAF (Rote Armee Fraktion) oder IRA (Irisch-Republikanische Armee) oder auch die sogenannten Baskenland-Freiheitskämpfer (ETA) drängten sich Sax sogleich auf und mochten den meisten älteren Menschen in Europa noch aus den Nachrichten bekannt sein. Relikte aus dem vorigen Jahrhundert! Denn es gab inzwischen zahlreiche neuere, kleinere oder nicht ganz so offensichtlich tätige Bewegungen von nationaler oder regionaler und dabei grenzüberschreitender Bedeutung, die unter der ständigen Beobachtung und Infiltration der jeweiligen Inlandsgeheimdienste oder anderer Polizeibehörden standen, nachdem sie auffällig geworden waren. Oder die inzwischen gar per Gesetz verboten worden waren – nur damit deren Beteiligte unter neuem Organisations-namen andernorts wieder auftauchten.
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