Das war die Welt. Das war die wirkliche Welt. »Fressen und gefressen werden«, hatte er einmal irgendwo gehört. Kleinen Kindern wurde etwas anderes vorgespielt, in den Bilderbüchern und Kinderserien gab es keinen Tod und Löwen und Schafe lebten friedlich zusammen. In Wirklichkeit lebten wahrscheinlich nicht einmal die Schafe untereinander in Frieden.
Am Boden war es völlig windstill, obwohl es oben ziemlich windig sein musste, denn die hohen Stämme schwankten sacht und gaben knarzende Geräusche von sich.
Vielleicht spürt der Wald, dass ich da bin, dachte Jakob. Er stellte sich vor, wie der Wind Wellen in dem grünen Meer hoch über ihm bildete – ganz wie auf der Wiese hinter dem Haus. Lange Wogen strichen über die Wipfel. Die Vögel über dem Wald betrachteten die Wesen, die am Boden herumkrochen; armselige Krebse, langsam, plump und hässlich, während sie selbst schnell und anmutig durch die Luft glitten.
Das Mädchen fiel ihm ein. Wie hatte er nur versäumen können, sie nach ihrem Namen zu fragen? Er müsste das nachholen. Aber wie sollte er sie wieder treffen? Würde sie das überhaupt wollen? Sie hatte sich von ihm nach Neustadt bringen lassen, aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihn mochte oder so. Den Busfahrer muss man ja auch nicht mögen, nur weil man den Bus nimmt. Er dachte an Rudi, den dicken, stets mürrischen Fahrer seines Schulbusses. Na gut, das war vielleicht kein so guter Vergleich.
Er versuchte, sich auszumalen, was das Mädchen jetzt gerade machte. Ob sie Geschwister hatte? Gab es in ihrem Haus auch eine nervige große Schwester wie Paula? Vielleicht aßen sie gerade. Jakob war mit seinen Eltern schon ein paar Mal in einem chinesischen Restaurant gewesen, darum kannte er das Essen. Es würde pappigen, rundkörnigen Reis geben und auf einer kleinen eisernen Platte hatte jeder eine Schale mit Fleisch und Gemüse. Ob der Rest ihrer Familie ebenso schweigsam war wie sie? Oder war sie zu Hause sowieso ganz anders? War sie nur schüchtern gewesen, weil er ein Junge war?
Er seufzte. Nein, das sicher nicht. Sie schien gar nicht bemerkt zu haben, dass er ein Mann war. Oder ein Junge. Oder was auch immer. Vielleicht nahm sie allgemein nicht so viel wahr. Dann hatte sie auch nicht gesehen, dass er das Loch in ihrer Jeans angestarrt hatte.
Jakob kam auf eine Lichtung, die er nie zuvor gesehen hatte. Er musste auf der Hut sein, er wusste, dass der Wald Spielchen mit ihm spielte, wenn er unvorsichtig war. Zwei der riesigen Kiefern waren umgefallen und hatten eine Lücke in die dichte Vegetation gerissen. Aus der Luft würden die beiden beinahe wie ein »X« aussehen. Oder wie ein Kreuz. Kein gutes Zeichen. Jakob beschloss, nicht quer über die Lichtung zu gehen, sondern am Rand zu bleiben. Wie ein umgestürzter Sonnenschirm aus Erde und Holz ragte der Wurzelstock eines der Bäume vor ihm auf. Die Wurzeln, manche dicker als sein ganzer Körper, andere haarfein, hielten die Erde fest und bildeten so einen dichten Schild.
Dort, wo der Baum gestanden hatte, klaffte ein Loch im Boden. Es war nicht tief, eigentlich eher eine Mulde, doch hütete er sich, hineinzusteigen.
Jakob ging weiter um den Baum herum. Ihm war, als habe der senkrecht stehende Wurzelstock etwas abgeschirmt, das nun sichtbar wurde.
War es etwas, das er sehen sollte? Das »X« deutete auf einen Schatz hin. Aber es konnte auch eine Falle sein.
Dort, in der Mitte der Lichtung,
lag etwas.
Lag
jemand .
Für einen Moment dachte er an das Mädchen, doch die Kleidung passte nicht zu ihr, die Gestalt wirkte größer. Er atmete auf.
Er kniff die Augen zusammen, ging aber nicht näher heran. In einem Halbkreis schritt er am Rand der Lichtung entlang, sorgfältig darauf bedacht, nicht in den Kreis zu treten. Aus irgendwelchen Gründen war die Gestalt schwer zu erkennen, er war sicher, dass es kein Erwachsener war, aber er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Irgendetwas an der Kleidung ließ ihn eher an ein Mädchen denken, doch das war alles andere als sicher. Seine Augen begannen zu tränen und je mehr er sich konzentrierte, desto verschwommener wurde die Gestalt. Sie lag auf dem Rücken, die Knie ragten in die Höhe, ganz so, als sonnte sie sich. Aber wer würde hier sonnenbaden? Jakob fragte sich, ob das Mädchen tot war. Aber könnten bei einer Leiche so die Beine stehenbleiben?
Er versuchte, einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen. Ein paar Lichtstrahlen der untergehenden Sonne fielen darauf, aber sie kamen von der anderen Seite und blendeten ihn. Das Licht fing sich in den Haaren und brachte sie zum Leuchten wie einen Heiligenschein. Jakob sah die Silhouette des Gesichts, die Nase, die Stirn, aber es war nicht genug, um zu erkennen, wer es war.
In diesem Augenblick schlug die Kirchturmuhr zwei Mal. Jakob spürte, wie es kühler wurde. Trotz der sommerlichen Hitze hatte er eine Gänsehaut. Er hörte ein lautes Summen, als eine Biene oder eine Hummel an ihm vorbeiflog.
Er sah sich um und war plötzlich nicht mehr sicher, aus welcher Richtung er gekommen war. Jakob zögerte. Wie weit war er um die Lichtung gegangen? Welcher der umgestürzten Bäume hatte ihm zuerst die Sicht genommen? Und wenn er den richtigen fand, konnte er sich darauf verlassen, dass er immer noch dort lag, wo er vorher gewesen war?
Mit klopfendem Herzen wandte Jakob sich um. Er musste nach Hause. Er musste den Wald so schnell wie möglich verlassen, bevor er ihn verschlang.
Ruhig ging er los, zwang sich, nicht zu rennen. Aufmerksam betrachtete er seine Umgebung und suchte nach bekannten Kennzeichen. Doch die Baumstämme sahen alle gleich aus. Er war unaufmerksam gewesen.
Er erschrak, als ein Ast unter ihm knackte. Es klang wie ein zerbrechender Knochen – kein gutes Vorzeichen. Die Sonne stand tief, nur vereinzelt stach ihr orange-gelbes Licht durch das dichte Blätterdach. Täuschte er sich, oder brach bereits die Nacht herein? Das war ausgeschlossen. War er nicht am frühen Nachmittag aufgebrochen? Es wurde doch erst um acht dunkel. Oder neun. Jedenfalls sehr spät. Er beschleunigte seinen Schritt.
Nur nicht rennen, sagte er sich. Es kann ja nichts passieren. Der Wald ist klein, egal, in welche Richtung man läuft, in ein paar Minuten ist man immer draußen.
Er kann
nichts
passieren.
Er konnte sich nichts vormachen. Es bestand Gefahr. Vielleicht würde der Wald ihn nicht mehr loslassen. Wenn er zu lange dort gewesen war oder wenn er sich zu tief hineingewagt hatte. War das dem Mädchen passiert? Hatte der Wald ihm darum eines seiner Geheimnisse gezeigt? Weil klar war, dass er sowieso nicht mehr lebend herauskam?
Er versuchte, seiner aufkommenden Panik Herr zu werden.
Wohin er auch blickte, dicke, graue Stämme. Er bahnte sich seinen Weg zwischen den Bäumen hindurch, mal links an einem Baum vorbei, mal rechts. Wenn er einen weiten Bogen links herum machen musste, machte er danach den gleichen Bogen nach rechts. Er durfte nicht im Kreis gehen. Der Wald würde versuchen, ihn in die Irre zu führen.
»Die Sonne zur Linken«, sagte er laut. Der Wald hatte keine Macht über die Sonne. Wenn er nur darauf achtete, dass die Sonne immer auf der gleichen Seite war, würde er schon den Ausgang finden. Er hörte ein schmatzendes Geräusch und hob verwundert den Fuß. Er war in einer Art Sumpf gelandet. Gelbe Blumen wuchsen zwischen weichem, dunkelgrünem Moos. Hier und da schimmerten Pfützen oder Tümpel zwischen den Mooskissen. Er wusste nicht, dass es hier einen Sumpf gab. Es war doch seltsam, dass der trotz der langen Hitze nicht ausgetrocknet war. Er sprang von einer Insel zur anderen, doch auch hier sank er tief ein und mit jedem Mal schien es schwieriger, die Schuhe aus dem nassen Moos zu ziehen. Wenn er sich zum Sprung abstieß, trat er nur in den Matsch. Er sah sich schon im Wasser versinken.
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