1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Für seinen Geschmack war sie ihm auch etwas zu nahe, aber auch dagegen konnte er nichts machen. Es wäre unhöflich, aufzustehen und sich woanders hinzusetzen. Ganz unhöflich wäre das.
Ihr Bademantel stand ein wenig offen und er sah etwas, das er eigentlich nicht sehen sollte.
Er räusperte sich und sah schnell woanders hin. »Frau Li – Sie sind doch Frau Li?« Er versuchte, sich an den anderen Namen auf dem Klingelschild zu erinnern. Wahrscheinlich, dachte er, spreche ich ihn sowieso ganz falsch aus. Aber welche Aussprachemöglichkeiten gibt es bei einem Namen, der aus nur zwei Buchstaben besteht?
Die Frau sah ihn von unten an und nickte. Sie stieß den Rauch durch die Nase aus. Unwillkürlich erinnerte Gerald sich an eine junge Frau aus seiner Studentenzeit. Wie war ihr Name gewesen? M– irgendwas mit »M«. Wie oft hatte er sie beobachtet, wenn sie eine Zigarette rauchte. Damals hatte er auch geraucht. Alle hatten damals geraucht. Das war eine ganz andere Zeit gewesen. Oder war er einfach nur alt geworden? Er konzentrierte sich auf die Frau vor ihm. Sie wirkte müde, hatte Ringe unter den schwarz geschminkten Augen. Er zwang sich, in ihr Gesicht zu sehen. Wenn man sich die Müdigkeit wegdachte, war sie eigentlich recht attraktiv. Wie alt mochte sie sein? Gerald fand, sie sah aus wie Mitte 20, aber das konnte natürlich nicht sein, wenn sie eine Tochter in der sechsten Klasse hatte. Mitte 30? Das wäre immerhin möglich.
»Erst einmal willkommen in Maunzdorf.«
Sie hatte die Beine übereinander geschlagen und sah ihn an.
»Ich weiß natürlich, dass Sie nicht evangelisch-lutherischer Konfession sind, aber Sie sind dennoch herzlich eingeladen, sich an allen Aktivitäten in der Kirchengemeinde zu beteiligen.«
Als er seinen Koffer herausholte, fiel sein Blick auf ihre Beine. Glatt sahen sie aus und weich. Nicht ganz straff, aber–
Zum Glück fand er gleich die entsprechenden Prospekte. Oder Flyer, wie seine Kinder das nennen würden.
»Hier, der Frauenkreis, immer am ersten Donnerstag im Monat, und«, er überreichte ihr das Blatt. Wo war nur der rote Zettel? »Und der Kirchenchor. Sie üben jeden Mittwoch.«
Sie sah ihn an, als hätte sie gar nichts verstanden. Vielleicht hatte sie auch nichts verstanden. »Im Gemeindehaus, neben der Kirche.« Er zeigte in die entsprechende Richtung. Ihr Blick folgte seinem Finger wie der einer Katze.
Den Bademantel hielt sie schon eine Weile nicht mehr zu. Er konnte praktisch alles sehen, wenn er es darauf anlegte. Er sollte sie darauf aufmerksam machen, aber wie? Gewiss würde sie es ohnehin gleich selbst bemerken.
»Ich unterrichte auch Religion in der Schule.«
Frau Li beugt sich vor, um in der Dose auf dem Tisch abzuaschen. Er leckte sich die Lippen.
»Wenn ihre Tochter den Religionsunterricht besuchen möchte, darf sie das gerne tun. Oder die Jungschar. Wie alt ist sie?«
»Shi Qi?«
»Ja … ich denke.«
»Shi Qiiii!«, rief die Frau unvermittelt. Ohne den Kopf zu drehen oder dass sie Luft geholt hätte.
Pfarrer Breitner hob beschwichtigend die Arme. »Sie müssen sie nicht holen …«
Doch das Mädchen stand schon in der Tür. Ein bleiches, längliches Gesicht schwebte vor der Schwärze des Flurs.
Der Pfarrer erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen. »Du bist Shi Qi? Es freut mich, dich kennenzulernen.«
Das Mädchen zuckte nicht mal mit der Wimper, was Herrn Breitner ein wenig verunsicherte. »Tja …« er wusste nicht, ob er sich noch einmal setzen oder ob er lieber gleich gehen sollte. »Ich habe zwei Kinder, die etwa in deinem Alter sein dürften. Paula ist 14 und Jakob ist –«, er machte eine Pause, während er nachrechnete, »Jakob ist 11.« Er lächelte.
»Wie alt bist du?«
»Zwölf.«
Er hörte, wie Shi Qis Mutter geräuschvoll schnaubend Rauch ausatmete.
»Dann gehst du in die sechste Klasse? Vielleicht sehen wir uns da.« Falls sie in die Hauptschule ging, wie er vermutete, und nicht aufs Gymnasium oder die Realschule.
Er räusperte sich und wandte sich zur Mutter um. Sie hatte sich zurückgelehnt und sah nach oben zur Decke. Ihren Bademantel hatte sie dabei geschlossen, allerdings war er so weit nach oben gerutscht, dass ihre Beine bis weit über die Knie sichtbar wurden.
»Nun, dann gehe ich mal wieder …« Er schloss seinen Koffer und nahm ihn in die Hand. Die Frau stand auf und sah ihn von unten an. Irgendwie eigenartig, als nähme sie ihn erst jetzt wahr.
»Das Mädchen …«, sagte sie.
Breitner fragte sich, was mit dem Kind war und sah sich um. Shi Qi stand nicht mehr da.
Die Frau wischte mit der offenen Hand vor ihrem Gesicht herum. Fragend sah er sie an.
»Das Mädchen«, wiederholte sie und machte die Geste noch einmal. »Dumm.«
»Naja.« Breitner runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf. »Ich denke …« Was sollte er sagen? Es gefiel ihm nicht, dass eine Mutter so von ihrer Tochter sprach, aber er konnte ja auch nicht gut widersprechen, ohne das Kind zu kennen.
Er räusperte sich nochmals. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Frau Li. Bemühen Sie sich nicht, ich finde den Ausgang allein.«
Es gab Leberkäse, wie jeden Freitagabend. Eigentlich komisch, dachte Jakob, dass wir das ausgerechnet freitags essen. Er hatte neulich einen alten ›Don Camillo und Peppone‹-Film gesehen. Don Camillo war auf der Flucht in das Haus einer Familie eingedrungen, die gerade beim Abendessen saß und hatte so getan, als überprüfte er, ob auch kein Fleisch auf dem Tisch stand. Leberkäse am Freitag würde Don Camillo nicht gefallen. Naja, immerhin gab es bei ihnen an diesem Tag mittags meist Fisch.
Während der Schulzeit war Freitag der schönste Tag der Woche, zumindest nach der Schule, in den Ferien war der Tag aber total nutzlos. Nichts als eine lästige Erinnerung, dass wieder eine Woche vorbei war und der Zeitpunkt des Schulbeginns unaufhaltsam näher rückte.
Als Jakob Platz nahm, saßen Mutter und Paula bereits am Tisch. Vater war nicht da, er war eben oft unterwegs. Wenn er Leute besuchte, musste er das tun, wenn die zu Hause waren, also abends. Sie würden ohne ihn mit Essen anfangen, wie meistens.
»Verschwunden?«, fragte Paula aufgeregt.
»Naja,« beschwichtigte die Mutter. »Sie wissen nicht, wo sie ist. So gesehen: ja.«
» Entführt? « Paula strahlte. Ihre Wangen glühten, als sie sich das Szenario ausmalte. »Vielleicht liegt ihre geschändete, blutbesudelte Leiche in diesem Moment in einem Straßengraben.« Mit leuchtenden Augen tunkte sie einen Bissen Leberkäse in den Ketchupklecks auf ihrem Teller und schmierte damit herum.
»Geschändet«, murmelte Jakob, weil er das Wort nicht kannte.
»Hoppla. Der kleine Jakob hat wieder ein Wort gelernt. Soll ich dir erklären, was–«
»Paula!«, wies Mutter sie zurecht. »Hör auf mit solchen Geschichten.«
Jakob starrte auf das Massaker auf Paulas Teller und malte sich aus, was er tun würde, wenn er eine blutige Leiche im Straßengraben fände.
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