»Man wird ja noch träumen dürfen«, maulte das Mädchen.
»Das ist doch nichts Schönes. Stell dir die Eltern von dem Kind vor …«
»Krank! Du bist krank!«, rief Jakob.
»Hmmm …« Paula kniff die Augen zusammen. »Vielleicht liegt sie ja im Wald?« Prüfend sah sie ihren Bruder an. »Würde mich nicht wundern.«
Jakob zuckte zusammen. Er erinnerte sich an die Gestalt auf der Lichtung.
Paula bemerkte seine Reaktion. Sie zeigte mit der Gabel auf ihn. »Aha! Ich glaube, wir haben den Täter gefunden.«
»Hört jetzt auf, alle beide! Ihr seid unmöglich.« Karin schüttelte den Kopf. »Zumindest von dir hätte ich etwas mehr Reife erwartet, Paula.«
Paula verdrehte die Augen. »Das Mädchen kommt schon wieder. Es wäre ja zu schön, wenn in diesem Kaff mal etwas passiert.«
»Um wen geht es überhaupt?«, fragte Jakob.
Mutter klärte ihn auf. »Svenja. Svenja Menter.«
Paula nahm seinen verständnislosen Blick wahr. »Mann, Jakob! In welcher Welt lebst du eigentlich?« Sie holte mit der flachen Hand aus, um sie ihm auf den Hinterkopf zu klatschen, aber Jakob duckte sich weg.
Er zuckte die Schultern. Der Name sagte ihm nichts. Svenja , wie eigenartig.
»Die fährt doch in unserem Bus mit. So ’ne dünne, mit braunen Locken.« Mit den Händen auf der Schulter zeigte sie die Länge der Locken. »Aus der Realschule. Die ist auch im Orchester bei Klötzchen. Geht in die Achte und trägt immer so Markenklamotten.« Kalt sah sie ihn an. »Aber mit wem rede ich. Vor ein paar Wochen hast du mich gefragt, warum so viele Leute T-Shirts haben, auf denen Sprit steht.«
»Esprit! Ich weiß, dass es so heißt.« Na gut, bis vor Kurzem hatte er es nicht gewusst. Warum war das auch so schwer zu lesen? Beim »E« fehlte ja die Hälfte.
»Paula! Musst du wieder so giftig sein? Dein Bruder interessiert sich eben nicht für Mode.«
Paula schnaubte. »Er interessiert sich nicht für die Realität.«
»Paula!«
»Ist doch wahr …«, maulte sie leise und wandte sich wieder dem Stück Fleisch auf ihrem Teller zu.
Eine Weile schwiegen sie, nur das Klappern des Bestecks auf den Tellern war zu hören.
»Wo ist eigentlich Papa?«, fragte Paula, augenscheinlich um Ablenkung bemüht.
»Der wollte zur Ochsenmühle, da wohnt wieder jemand Neues.«
Jakob errötete und blickte krampfhaft auf seinen Teller, damit es niemand bemerkte.
»Ach ja, wer ist es denn diesmal?«
»Ich glaube, Chinesen.«
»Chinesen. So, so.« Sie steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund. Dann zog sie mit beiden Händen die Augen auseinander, sodass sie zu schmalen Schlitzen wurden. »Tsching, tschang, tschung, Chinese ist nicht dumm,–« Sie verstummte, als sie den eisigen Blick der Mutter bemerkte. Nicht einmal Jakob schien heute auf ihre Scherze zu reagieren. Sie machte eine Grimasse und aß weiter.
»Ich möchte, dass ihr ein bisschen vorsichtig seid.«
»Was? Wegen der Chinesen? Ich glaube, die essen keine Kinder, nur Hunde.« Diesmal musste sogar Jakob lachen, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass das Mädchen, das er auf dem Fahrrad mitgenommen hatte, Hund aß.
»So lange sie keine Katzen essen.«
»Oder waren es Katzen?« Paula hob grinsend die Schultern, froh, dass Jakob endlich auf ihre Scherze einging. »Dabei fällt mir ein, dass ich Mohrle den ganzen Tag noch nicht gesehen habe.«
Karin seufzte. »Könnt ihr nicht einmal ernst sein? Ihr sollt vorsichtig sein, weil ein Mädchen verschwunden ist.« Sie sah Paula an. »Ein Mädchen in deinem Alter ist weg. Ich meine,« fuhr sie in betont lockerem Tonfall fort, »ich meine, bestimmt taucht sie wieder auf, vielleicht ist sie mit ihrem Freund durchgebrannt oder so. Aber trotzdem.« Sie hob den Zeigefinger und sah Paula an.
Jakob stellte sich bildlich vor, wie zwei Leute »durchbrannten«. Wie zwei Glühbirnen, die man einschaltete, die dann pling! pling! kurz ganz hell wurden und verglühten. Was Mutter aber auch immer für seltsame Wörter benutzte.
»Seid trotzdem vorsichtig. Das gilt auch für dich, Jakob. Auch Jungen kann etwas passieren.«
»Mach ihm lieber keine falschen Hoffnungen«, ätzte Paula und machte ihrem Bruder einen Kussmund. »Sonst kommt er gar nicht mehr nach Hause.«
Karins Augenbrauen zuckten nach oben, aber sie reagierte nicht auf Paulas neuerliche Stichelei und schüttelte nur ganz leicht den Kopf. Es war ein langer Tag gewesen. Im Landratsamt war nicht viel los gewesen, natürlich, in den Ferien, aber die Hitze im Büro machte jede Bewegung zur Tortur.
Sie hörten, wie die Haustür geöffnet wurde. Vaters charakteristische Geräusche, die Jakob in- und auswendig kannte; das Geräusch, wenn er seinen Schlüsselbund an das Brett hängt. Das Ächzen des Stuhls, auf den er sich setzt, um seine Schuhe auszuziehen. Der Griff zum Schuhlöffel. Der metallische Klang, wenn er ihn wieder an den Haken hängt. Eins, zwei, drei, vier Schritte zur Küchentür. Er streckte seinen Kopf herein, das Kollar leuchtete aus dem schwarzen Anzug. »Hallo, ihr drei. Gut, dass ihr schon mit Essen angefangen habt.« Er nickte seiner Frau zu. »Ich komme gleich.« Damit verschwand er im Badezimmer.
Paula hatte ihr Besteck zusammengelegt, sie war mit Essen bereits fertig, aber sie wartete noch.
Vater kam wieder, jetzt trug er einen karierten Pullover und eine ausgeblichene Jeans. Er ging um den Tisch, küsste seine Frau und Paula auf den Kopf und strich Jakob durch die Haare, bevor er sich setzte. Er sprach im Stillen ein Gebet, dann begann er zu essen. Jakob fragte sich jedes Mal, was er betete, wenn er allein und still betete. Sicher nicht so etwas Kindisches wie »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast«. Etwas Ernsteres. Ein Profi-Gebet.
»Wie war’s in China?«
»Paula!«, schimpfte die Mutter. Paula runzelte voll verwirrter Unschuld die Stirn.
»Ich war in der Ochsenmühle, ja«, antwortete Vater. »Das sind ganz normale Leute.« Sein Blick irrte suchend auf dem Tisch umher, bis er fand, was er wollte. Er griff zum Senfglas und klatschte sich eine ordentliche Menge auf den Teller.
Jakob beobachtete Mutter. Sie mochte es nicht, wenn ihr Mann alles so stark würzte. Doch diesmal sagte sie nichts, spitzte nur ein klein wenig die Lippen.
»Sie haben eine zwölfjährige Tochter«, sagte er kauend und sah erst Paula, dann Jakob an.
Paula hob die Augenbrauen. »Und? Sollen wir uns um sie kümmern oder so?« Sie machte eine Pause, um dem Blick der Mutter zu begegnen. »Was?«, fragte sie harmlos. Mit einem Seitenblick auf Jakob fuhr sie fort: »Wie du vielleicht weißt, ist dein Sohn kein besonders sozialer Mensch und ich habe etwas anderes zu tun.«
»Ich dachte, vielleicht will sie ja in die Jungschar oder so.«
»Und? Was habe ich damit zu tun?«
»Paula!«
Sie hob die Schultern. »Ist doch wahr.« Dann fiel ihr etwas ein. » Ich bin sowieso über dieses Alter hinaus. Jakob andererseits …«
Jakob stockte der Atem. Die Jungschar! Als ob es nicht schlimm genug wäre, Sohn des Pfarrers zu sein. Als Sohn des Pfarrers zur Jungschar gehen zu müssen, war so ziemlich das Schrecklichste, was er sich vorstellen konnte. Die Leiterinnen erwarteten dann, dass er bei allem ein Vorbild war und alles wusste, während ihn die anderen Kinder für eine Art Spitzel des Feindes hielten.
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