Trotz der langen Trockenheit war die Erde hier unter den Bäumen noch relativ locker und er musste nicht richtig graben; er wühlte eher mit dem Messer durch die Erde.
Er hatte befürchtet, dass nicht mehr viel übrig sein würde, oder beim Ausgraben alles auseinanderfiele, aber das war nicht der Fall. Noch immer war der Körper in einem Stück. Vorsichtig hob er ihn mit dem Messer hoch. Leicht war er und trocken. Wie eine Mumie. Die Stacheln hingen zusammen, ragten jetzt aber in alle Richtungen. Wahrscheinlich war das Fell auch noch dran, aber es war zu dunkel, um das zu erkennen.
Im Frühling, als er den toten Igel gefunden hatte, hatte der ganze Körper vor Maden und Würmern gewimmelt und angeekelt hatte Jakob ihn mit Erde und Blättern bedeckt. Jetzt hatten die Maden alles gefressen, was zu fressen war. Die Knochen und die Stacheln gehörten anscheinend nicht dazu.
Ohne den Kadaver zu berühren, bugsierte er ihn in die Plastiktüte und verschloss sie fest, indem er sie verknotete.
Er strich behutsam mit den Fingerspitzen über die Oberfläche. Die Stacheln konnten nicht mehr pieksen, aber er spürte, wo sie waren. Es fühlte sich warm an. Strahlte das tote Tier immer noch Wärme ab? Oder entstand sie bei der Verwesung?
Er fragte sich, wie genau der Kadaver aussah. Hatte er noch Augen? Krallen? Zähne? Er wusste, dass diese Tiere messerscharfe Zähne hatten.
Für einen Moment hatte er eine Vision des Igels, der sich aus der Tüte befreite, mit spitzen, gelben Zähnen das Plastik aufriss, eine vertrocknete, zerdrückte Schnauze durch das Loch steckte –
Aber das Tier war tot. Er warf die Tüte ein wenig in die Höhe und fing sie auf. Wenn man es nicht wusste, konnte man sich glauben, dass darin ein Ast oder ein Stück vertrocknete Baumrinde war.
Als Svenja erwachte, dauerte es eine ganze Weile, bis sie wirklich zu sich kam und begriff, wo sie sich befand.
Ihr war nicht mehr so heiß. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte – war sie nur ein paar Minuten weggetreten oder war sie einen ganzen Tag außer Gefecht gewesen? Durch das grobe Leinen sah sie, dass es noch hell war, also war es immer noch – oder wieder – Tag.
Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte nach unten. Aber unter dem sackartigen Gebilde, das ihren Kopf bedeckte, konnte sie nur wenig von ihrer Umgebung erkennen. Sie schnaufte schwer. Sie fühlte sie sich benommen, alles schien sich zu drehen.
Ein stechender Schmerz zuckte vom Kopf in den Nacken. Kurz wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie nahm den Kopf zurück, wollte laut fluchen, aber sie verschluckte sich nur am faulig schmeckenden Halstuch. Ein trockener Husten entrang sich ihrer Kehle.
Nach einer Weile versuchte sie es noch einmal. Sie holte tief Luft und streckte den Kopf langsam nach hinten.
Der pochende Kopfschmerz nahm zu. Kleine blaue Flecken erschienen auf ihrer Netzhaut, pulsierten im Takt ihres Schmerzes, der, wie sie bemerkte, ihr Puls war.
Da stand etwas. Am Rand ihres Gesichtsfelds, auf der Mauer, die den Rand ihres Gefängnisses bildete, stand ein roter Becher – und wenn sie nicht alles täuschte, glitzerte Wasser darin. Etwas lag daneben, etwas flaches, Braunes, doch es interessierte sie nicht neben dem herrlichen Nass.
Sie stöhnte leicht, die Aussicht, dass Flüssigkeit ihren Mund benetzen, frisches Wasser ihren Rachen hinabgleiten würde, war zu verlockend.
Svenja beugte ihren Kopf wieder nach vorn. Sie hatte einen dicken, blau-weiß gestreiften Strohhalm in dem Becher gesehen.
Sie schüttelte den Kopf leicht hin und her, in der Hoffnung, einen besseren Blick durch die Sackmaschen zu erhelten. Unglücklicherweise waren die Maschen an manchen Stellen mit etwas überklebt, sodass man dort gar nichts sehen konnte. Sie drehte sich in der engen Box, bis ihr Gesicht neben dem Becher war. Ruckartig setzte sie sich auf, hockte sich auf die Knie. Die Wände ihres Gefängnisses schwankten und sie lauschte mit klopfendem Herzen, ob der Becher nicht zu Boden fiel. Aber das würde sie kaum hören, oder?
Der Becher war nicht herabgefallen. Unendlich langsam gelang es ihr, den Sack über ihrem Kopf über den Strohhalm zu stülpen und in den Mund zu bugsieren. Sie war in der Hocke und musste sie sich auf ihre Zehenspitzen stellen.
Vorsichtig saugte sie am Strohhalm. Ein Schluck rann ihre trockene Kehle herab. Das Wasser war nicht kalt, aber ungeheuer erfrischend. Noch ein Schluck. Sie schloss die Augen, gab sich ganz dem Gefühl hin, dass flüssige Energie sie durchströmte. Noch ein Schluck, dann geschah es: Ein Krampf im Fuß, sie rutschte ab und der Becher fiel hin. Sie bückte sich, aber es war zu spät, der Becher lag auf zu ihren Knien, sein Inhalt verschüttet. Sie fühlte die Nässe – für einen Moment schoss ihr durch den Kopf, dass sie das Wasser irgendwie über die Haut aufnehmen müsste, aber das war natürlich nicht möglich. Was für ein dummer Gedanke. Sie hatte es verbockt.
Erschöpft sank sie in sich zusammen, der Fuß schmerzte noch immer vom Krampf, aber sie spürte es nicht, vor lauter Wut, dass sie das Wasser verschüttet hatte.
Er hätte nicht sagen können, warum er wieder in den Wald ging. Es gab keinen Grund. Na gut, es hatte nie einen Grund gegeben, auch früher nicht, als er mit Paula spielte.
Wenn es ihnen im Garten langweilig wurde, sie keine Lust hatten, Boccia, Federball oder etwas anderes zu spielen, gingen sie eben in den Wald.
Sie sahen sich um und dort war der Wald, herausfordernd stand er auf der anderen Seite des Zauns und versprach Aufregung und den Hauch des Verbotenen, da ihre Eltern es nicht gern sahen, wenn sie in den Wald gingen. Vor Jahren hatten sie es ihnen sogar untersagt, das war allerdings eine Regel, die nicht weiter forciert wurde. Die Eltern nahmen wohl an, dass Jakob und Paula ohnehin kein Interesse mehr an dem Wald hätten. Oder ihnen dort keine Gefahr drohte.
Jakob wollte vorsichtiger sein als beim letzten Mal und er hatte seinen Talisman dabei. In der rechten Hand trug er eine grüne Plastiktüte der Buchhandlung Palmer, mit dem toten Igel in einer noch kleineren Tüte darin. Er wollte sehen, ob er die Lichtung noch einmal fand.
Wie immer schien am Anfang alles bekannt. Ein Trick des Waldes. Jeder Baum war vertraut; ein Baumstumpf, daneben ein Ameisenhaufen. All das kannte er.
Er ging weiter. Eine junge Eiche versuchte, sich zwischen all den Kiefern zu behaupten, die sie weit überragten. Es ging leicht bergauf.
Zwei zusammengewachsene Bäume, auch sie kamen ihm bekannt vor. Oder verwechselte er sie mit anderen Bäumen? Wie sollte man sich schon einen Baum merken?
Ein Schmetterling torkelte vorbei, irgendein heller, ein Zitronenfalter oder ein Kohlweißling. Sicher hatte er sich verirrt, im Wald gab es ja nichts für ihn zu fressen. Im Schatten war der Schmetterling kaum zu sehen, doch wenn ein Sonnenstrahl ihn traf, strahlte er, leuchtete, verspielt und doch in einem exakten Rhythmus wie der Blinker eines Autos.
Irgendwo klopfte ein Specht, aber Jakob hätte nicht zu sagen vermocht, ob der Laut von vorne oder von hinten kam.
Er hörte etwas Anderes und blieb so abrupt stehen, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Unter den normalen Geräuschen des Waldes hatte er etwas anderes vernommen, etwas Dumpfes, Unheimliches. Das war kein Geräusch, das hierher gehörte.
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