Mit dem nächsten Schritt landete er auf festem Grund. Verwundert blieb er stehen und hob den Kopf. Keine zwanzig Meter vor sich sah er Paula. Sie stand in ihrem Garten und betrachtete Jakob mit unbewegter Miene. Die Sonne schien auf ihre glatten, hellbraunen Haare, sodass sie strahlten wie Gold.
Jakob beruhigte sich. Plötzlich kam er sich ziemlich doof vor. Betont lässig kam er durch das Dickicht. Wie lange hatte sie ihn schon angesehen?
Er kletterte auf den Zaun und sprang auf der anderen Seite herab. »Hi.«
Paula schüttelte den Kopf. »Was machst du da drin?«
Die soll bloß nicht so tun. Letztes Jahr war sie auch oft ›da drin‹ gewesen, hatte mit ihm Cowboy und Indianer oder Dschungelforscher gespielt. »Ich – äh …«
Paula schnaubte tief, um klar zu machen, dass die Antwort sie sowieso nicht interessierte, weil es sich um irgendeine Kinderei handeln musste. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um. »Du sollst zum Essen kommen«, sagte sie im Weggehen.
Jakob kam hinter ihr her. Ihm fiel auf, dass sie sich anders bewegte als früher. Sie bewegte sich so wie die Frauen, über die sie sich immer lustig gemacht hatten. Wie eine Tussi . Er grinste. Das müsste er sich merken, wenn sie sich das nächste Mal stritten. Hoffentlich war das keines der Wörter, die in ihrer Familie geächtet waren.
Bevor er die Haustür betrat, wandte er sich noch einmal um. Der Wald hatte ihn losgelassen. Diesmal.
Er wartete hinter dem Maschendrahtzaun und hütete seine Geheimnisse.
Warum in diesem Schuppen? Nein, Schuppen war der falsche Begriff, es war eine Scheune. Anscheinend hatte der verrückte alte Mann früher einen Bauernhof gehabt. Svenja betrachtete eine Schubkarre und überlegte sich, ob sie sich hinsetzen sollte. Aber dann würde ihre helle Hose Flecken bekommen.
Andererseits stand sie ziemlich dämlich in der Gegend herum.
Sie verschränkte die Arme und räusperte sich. Unauffällig betrachtete sie ihre Brüste. Sie war zufrieden. Wenn sie in der Umkleide oder beim Schwimmen die anderen Mädchen sah, fand sie, dass sie ganz gut abschnitt.
Aber Marco hatte natürlich einen anderen Anspruch, da genügte es nicht, dass sie die Kinder in ihrer Klasse ausstechen konnte. Marco war beinahe zwei Jahre älter als sie und schon ein richtiger Mann. Sicher erwartete er eine richtige Frau.
Blendend weiß gleißten Flecken aus Sonnenlicht auf dem Boden und Staub tanzte in den Strahlen. Nur auf den ersten Blick war es hier seltsam – eigentlich war es ein romantischer Ort.
Würde »es« hier passieren? Sie hatten ja schon Händchen gehalten und neulich, im Freibad, sogar etwas mehr, aber dort waren sie natürlich nie ungestört. Dass er sie hierher bestellt hatte, weil er ihr »etwas Wichtiges« sagen musste, konnte nur bedeuten, dass er es ernst meinte.
Sie widerstand dem Drang, die zerknitterte Nachricht, seinen Liebesbrief, aus ihrer Gesäßtasche zu holen und nochmals zu lesen.
Es war das erste Mal, dass er ihr geschrieben hatte und die Wärme seiner Worte hatte sie tief bewegt. So cool er sich nach außen auch immer gab, in seinem Innern war er ganz zart und verletzlich. In der Bravo Fotolovestory war es ja auch immer so, die lässigen Jungs, die mit den Lederjacken, die so unnahbar taten, waren in Wirklichkeit ganz sanft und liebevoll.
Ob er schon mal …? Sicher. Er war ja schon älter. Also, bestimmt nicht so oft, aber er war gewiss keine Jungfrau mehr. Er würde nicht drängeln, das machten die netten Jungs nämlich nie. Sie sagten »Hey, lass dir Zeit«, oder »Macht nichts, wenn du noch nicht so weit bist.« Aber sie war soweit.
Sie hatte sogar zwei Kondome dabei, die waren mal an der Schule verteilt worden. Die meisten hatten die Kinder natürlich aufgeblasen und sie landeten sonst wo. Svenja aber hatte heimlich zwei eingesteckt und behalten. Für alle Fälle.
Und jetzt war dieser Fall.
Sie wischte mit der Hand über eine niedrige Mauer aus rotem Ziegelstein und nahm darauf Platz. Sie schloss die Augen und strich sich durch die dunkelblonden Haare, die noch nach Shampoo rochen.
Sie hörte ein Geräusch. Sie wandte sich nicht um und öffnete die Augen nicht. Sie wusste ja, wer es war. Was würde er sagen? Oder würde er schweigen? Würde er ihr einen zärtlichen Kuss auf den Nacken geben?
Schritte näherten sich, langsam, bestimmt war er schüchtern. Sie hörte ein Klappern, ein Scharren.
Sie lächelte, damit er sich ganz sicher fühlte. Komm zu mir, dachte sie. Wenn ich dir so vertraue, dass ich die Augen schließe, musst du auch keine Angst haben.
Etwas sauste heran. Ein Balken knallte mit Wucht auf ihren Hinterkopf. Die Kraft des Aufpralls fegte sie von der Mauer. Noch bevor sie den Boden erreichte, verlor sie das Bewusstsein, sah nicht mehr die Gestalt, die sich neugierig über sie beugte.
Gerald Breitner musste sich bücken, um das Klingelschild zu entziffern. Er fragte sich, wann er das letzte Mal hier gewesen war. Da hatten noch die Kroaten hier gewohnt. Oder Bosnier. Wie hießen die noch? Irgendwas mit »-vic« am Ende. Karin wüsste es. Er nahm sich vor, sie beim Abendessen zu fragen.
Die Russlanddeutschen waren weg, die Kroaten waren weg, doch das Licht war immer noch nicht repariert.
Aber hier musste es sein. Im Erdgeschoss war ja nur eine Wohnung. Was stand da? »Li Wu«? Warum zwei Namen? War das ein Doppelname oder trugen Vater und Mutter unterschiedliche Nachnamen? Oder war eines davon ein Vorname?
Er drückte die Klingel und vergewisserte sich, dass sein Kollar noch gerade saß. Das schärfte Karin ihm immer ein. Und: lächeln .
Es summte und er drückte gegen die Tür. Im Hausflur roch es nach Zigaretten und irgendeinem Putzmittel. Die Tür am Ende des Gangs öffnete sich einen Spalt.
»Frau Li?« Lächeln!, sagte er sich.
Die Tür öffnete sich ganz. Eine Frau sah ihn misstrauisch an. Oder ängstlich. »Ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde. Breitner – wie der Fußballspieler.« Er streckte ihr die Hand entgegen. Nach kurzem Zögern ergriff die Frau sie. Ihre Hand fühlte sich kühl an. Sie trug eine Art schwarzen Bademantel, den sie mit der linken Hand über der Brust zusammenhielt.
»Komme ich ungelegen?« Sie antwortete nicht. Er entschied, es weiter zu versuchen. »Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, allen Menschen einen Besuch abzustatten, die es hierher in unsere kleine Gemeinde verschlägt.«
Er fragte sich, ob sie ihn überhaupt verstand. Sie hatte ja noch kein Wort gesagt.
»I am the priest of this –« Was hieß Gemeinde? Oder Dorf? »–the priest of Maunzdorf.« Er sprach extra langsam. Hatte sie das verstanden? Er schlug mit der flachen Hand auf seine Brust und sagte: »Priest.«
Sie trat beiseite. Das bedeutete wohl, dass er eintreten sollte.
Er nickte und ging ins Haus. Lächelnd sah er sich um.
Die Frau führte ihn durch einen Korridor. Überall standen Umzugskartons herum. »Wenn ich ungelegen komme …«
Sie ging durch eine offene Tür, in einen kahlen Raum. Dort standen ein schwarzes Ledersofa und ein flacher Tisch mit einem riesigen, weißen Telefon darauf, daneben eine über und über mit Zigarettenkippen gefüllte Dose Nescafé. Sie deutete auf das Sofa und der Pfarrer nahm Platz. Sie zündete sich eine Zigarette an und setzte sich neben ihn. Es war ihm unangenehm, dass sie rauchte, aber er konnte sie ja schlecht bitten, das in ihrem eigenen Haus zu unterlassen.
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