»Wo willst du eigentlich hin?«, fragte Jakob, als er an einer roten Ampel stand. Er drehte sich um, aber er musste aufpassen, dass das Fahrrad nicht umfiel und außerdem wurde es gerade wieder grün.
Er hielt am Marktplatz. In der Mitte des Platzes, am Brunnen, saßen ein paar Mädchen, die ihm bekannt vorkamen. Vielleicht aus der Klasse unter ihm.
Das Mädchen stieg von seinem Fahrrad ab und wartete, bis er es abgeschlossen hatte.
»Danke«, sagte sie.
»Bitte«, sagte Jakob, dann wusste er nicht, was er noch sagen sollte. Vermutlich würde sie sowieso nicht reagieren, egal was er sagte. »Du verstehst aber schon Deutsch, oder?«, versuchte er es.
Sie nickte. »Ja.« Ernst sah sie ihn an, keine Spur eines Lächelns in ihrem Gesicht. War sie sauer, dass er sie gefragt hatte? Zumindest musste er nicht Englisch sprechen. In der Schule hatte er zwar ganz gute Noten in Englisch, es zu sprechen, kostete ihn aber viel Überwindung. Zumal die Englischlehrerin auch noch ziemlich hübsch war.
Vielleicht wollte das Mädchen einfach nicht mehr sprechen.
Was würden Erwachsene in so einer Situation sagen? Wahrscheinlich gerieten die nicht in solche Situationen. »Tja …«, murmelte Jakob und nickte ganz leicht. Dann ging er weiter, die Hauptstraße hoch, Richtung Bastei.
Nach ein paar Schritten wandte er sich um. Das Mädchen stand immer noch genau so da. Egal, dachte er, ich war heute schon nett genug.
Wie immer besah er sich erst die Auslage, bevor der den Laden betrat. Dort waren zwar selten wirklich wertvolle Stücke, aber Bernd stellte dort oft besonders schöne oder historisch interessante Briefmarken aus.
»Hey, Jakob!« Bernd freute sich sichtlich, dass jemand in seinen Laden kam. In den Sommerferien kam oft stundenlang kein Mensch, hatte er einmal erzählt. Wie immer hatte Jakob zu wenig Geld, um sich die Marken zu kaufen, die er wirklich haben wollte und wie immer überließ ihm Bernd ein paar »interessante Stücke«, wie er es nannte, für sehr wenig Geld. Auf jeden Fall viel weniger als das, was im Michel als Wert stand.
Als er gerade bezahlte, bemerkte er das Mädchen. Sie stand vor dem Schaufenster und betrachtete konzentriert die Briefmarken und Münzen.
Bernd bemerkte Jakobs Reaktion. »Gehört die zu dir?«
Jakob schüttelte den Kopf und wurde rot.
»Ist hübsch«, sagte Bernd und überreichte ihm seine Neuerwerbungen in einem kleinen Papiertütchen. Sorgfältig steckte Jakob sie in seinen Brustbeutel. »Doch, wirklich ganz hübsch.« Jakob spürte eine Art unsichere Aufregung bei Bernd, wie wenn der ihm eine wirklich seltene Marke in einem Prospekt zeigte, eine, die nicht im Michel war.
Er verließ den Laden und wollte sich schnell an dem Mädchen vorbeischleichen. Er sah in die andere Richtung, als hätte er sie nicht bemerkt.
»Hey«, sagte sie, nicht laut, aber immerhin so laut, dass er nicht so tun konnte, als hätte er es überhört.
»Ah.« Er lächelte flüchtig, nickte und ging an ihr vorbei.
»Wir essen ein Eis.« Was heißt wir ? Und wie kann sie das einfach so feststellen? Er blieb stehen. Was wollte sie überhaupt von ihm?
»Komm.« Sie ging vor und er folgte ihr wieder auf den Marktplatz. Das Mädchen zeigte auf das Dolomiti. Als wäre es eine tolle Leistung, dass sie es gerade entdeckt hätte und er es nicht schon ewig kennen würde.
»Ich habe das Geld für den Bus.« Jetzt hätte sie eigentlich lächeln sollen, aber sie tat es nicht. »Genug für zwei Eis.«
Kurz darauf saßen sie auf dem Rand des Brunnens, jeder mit einer Tüte Eis in der Hand. »Danke für das Eis.«
Inzwischen rechnete Jakob gar nicht mehr damit, dass das Mädchen antwortete.
»Neustadt«, sagte sie und knabberte an ihrer Waffel. War sie zum ersten Mal hier? Sollte er Fremdenführer spielen? Aber was wusste er schon von der Stadt? Es war ein kleines, langweiliges Provinznest. Nicht ganz so klein und nicht ganz so langweilig wie Maunzdorf, aber auch nicht viel besser. Naja, eigentlich schon viel besser, aber auch noch keine richtige Stadt, wie Nürnberg, oder gar Hamburg, wo eine Oma von ihm wohnte, die sie jedes Jahr in den Herbstferien besuchten.
»Ich gehe hier zur Schule.« Er zeigte in eine Richtung. »Da ist das Gymnasium.«
Sie folgte mit den Augen seinem Finger, aber natürlich sah man vom Marktplatz aus die Schule nicht.
»Wo gehst du in die Schule?«
Sie zuckte leicht mit den Schultern. Er sah sie an, aber sie zeigte keine weitere Reaktion. Sie schien es nicht für nötig zu halten, diese Frage zu beantworten. Vielleicht war es ihr egal. Oder wusste sie es nicht? Ging sie gar nicht zur Schule? Aber sie musste doch auch in die Schule gehen, oder? Auch wenn sie keine Deutsche war. Oder?
Ihre Hose hatte ein paar Löcher, wie es aussah, mit der Schere hineingeschnitten. Ein kleines Loch war im Stoff, mitten auf ihrem Oberschenkel. Man konnte ihre Haut hindurch sehen, wenn sie saß. Wenn sie stand, war da nur ein dunkles Loch. Aber wenn sie saß …
Dieses Loch zog immer wieder magisch seine Blicke auf sich – er konnte nichts dagegen tun. Er war sich sicher, dass sie das bemerkte, darum sah er immer rasch weg.
Falls sie es registrierte, sagte sie zumindest nichts dazu. Na gut, alles andere wäre ja auch ein Wunder gewesen.
Er knusperte am unteren Rand der Waffel und steckte sie in den Mund. Er war eigentlich fertig. Manchmal ging er noch in das winzige Kaufhaus, aber mit dem Mädchen ferngesteuerte Autos und Homecomputer anzusehen, wäre ihm peinlich gewesen. Das waren sowieso keine Mädchensachen. Paula interessierte sich auch nicht für solche Dinge. Natürlich gab es im Kaufhaus auch Barbie und sowas, aber dafür war sie zu alt, oder?
Ich muss ihr irgendetwas zeigen, dachte er. »Kennst du den Stadtpark?«
Sie sah ihn an. Natürlich kannte sie ihn nicht. Woher auch?
Gemeinsam gingen sie in den Stadtpark und spazierten um den kleinen See mit dem Schwan und den vielen Enten.
Etwas abseits stand ein runder, weißer Pavillon. Jakob ging hinein, wo sollten sie sonst auch hingehen. Er ging einmal im Kreis, sah auf die Trauerweiden, auf den kleinen See und im Schatten der Mauer den kleinen Spielplatz, wo er früher manchmal mit Paula gespielt hatte. Ob die Schaukel inzwischen repariert war?
An der Säule direkt neben ihm war das Wort SEX ins Holz geritzt.
Erschrocken ging Jakob weiter. Warum war er ausgerechnet hier so lange stehen geblieben? Er kratzte sich am Kopf und ging die Stufen zum Weg zurück.
Das Mädchen folgte ihm. »Wo ist die Bahnhofstraße?«, fragte sie unvermittelt.
»Die Bahnhofstraße? Die kenne ich.« Er ging voran, sie lag sowieso auf dem Weg. »Hier fängt sie an und dann geht es bis zum Bahnhof.«
Sie war stehen geblieben und starrte auf das Schild mit dem Straßennamen.
»Wo willst du denn hin? Suchst du etwas?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Er sah sie an, aber sie wandte sich einfach um und ging zurück zum Marktplatz.
Als sie bei seinem Fahrrad waren, wartete sie ganz selbstverständlich neben dem Gepäckträger, dass er aufstieg.
Und irgendwie war das auch richtig so.
Nach einer anstrengenden Fahrt setzte er sie wieder an der Bushaltestelle vor der Ochsenmühle ab, wo er sie zuerst gesehen hatte. Er hatte lange überlegt, ob er etwas sagen sollte, wie ›nächste Haltestelle: Ochsenmühle‹ und ob das witzig wäre. Am Ende hatte er es aber sein lassen.
»Ciao«, sagte er und sie antwortete: »Ciao.«
Ohne sich umzudrehen, fuhr er nach Hause. Als er sein Fahrrad den kleinen Weg neben dem Haus hochschob, fiel ihm ein, dass er nicht einmal wusste, wie sie hieß.
Jakob saß in seinem Zimmer, unter dem Poster mit der Computergrafik. Er hatte es sich kostenlos von einem Computerkonzern schicken lassen, es zeigte eine fraktale Figur, ein sogenanntes Apfelmännchen. Als er es bestellt hatte, hatte er allerdings angenommen, dass »Apfelmännchen« eine lustige Comicfigur wäre. Um Paula nicht den Triumph zu gönnen, dass er etwas missverstanden hatte, hatte er das Poster trotzdem aufgehängt. Die Ränder der Figur waren bunt und zerfransten sich in unendlichen Mustern, aber in der Mitte war die Figur schwarz.
Читать дальше