Er konnte nur ihre Füße sehen, ihre in schwarzen Turnschuhen steckenden Füße. Wie zwei Pilotfische einen Hai begleiteten sie das Fahrrad, einer links und einer rechts schwebten sie über dem Boden und schwankten leicht hin und her.
Bald erreichten sie die Bundesstraße. Der Asphalt war hier tiefschwarz und glatt und es gab eine weiße Fahrbahnmarkierung, die mit so dicker Farbe gemalt war, dass man es spürte, wenn man darüber fuhr.
Ein Baulaster überholte sie. Der Lärm war ohrenbetäubend und der Fahrtwind drückte die braunen Grashalme am Straßenrand nieder und ließ Jakobs T-Shirt flattern.
»Alles okay?« Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter, sah aber nur ein schwarzes Auge unter ihrem Pony.
»Hm.«
Die Sonne knallte mit aller Kraft auf Jakobs Rücken. Er stellte sich vor, dass er von Sonnenenergie angetrieben wurde und immer schneller fuhr, je mehr Energie er bekam.
Ein entgegenkommender PKW betätigte die Lichthupe. Warum tat er das? Natürlich war es verboten, jemanden auf dem Gepäckträger mitzunehmen, er hatte das auch für seine Fahrradprüfung gelernt. Aber wen interessierte das hier? Auf dem Land gibt’s kein Gesetz, sagte Paula immer. Er konnte nur hoffen, dass der Fahrer des Autos ihn nicht kannte. Er senkte den Kopf und sah zur Seite, als das Auto vorbeifuhr.
Es ging leicht bergab, als sie durch Burgkunzheim fuhren. Jakob wagte einen Blick nach hinten. Das Mädchen sah nach oben und betrachtete offensichtlich den Turm der Kirche, an der sie gerade vorbeifuhren. Das Dach war eine Barockhaube, selten in dieser Gegend, wie Papa nicht müde wurde zu erklären, wenn sie hier vorbeifuhren.
Zum Beispiel, wenn sie die Fleischmanns besuchten, die Familie des Nachbarpfarrers. Sofort hatte Jakob das Bild des Mannes vor Augen. Die wilden, etwas ungepflegt wirkenden Locken, die kleine, runde Brille und seine Angewohnheit, eigenartig auf- und ab zu hüpfen, wenn er etwas lustig fand oder wenn er aufgeregt war. Die Fleischmanns hatten vier Kinder, allesamt Jungen. Vermutlich behandelten sie darum seine Schwester Paula immer wie einen kleinen Star, wenn sie sich trafen. Paula bekam von allen Kindern zuerst einen Kuchen und die Fleischmann-Jungs wurden zurechtgewiesen, wenn sie sich, nach Meinung ihrer Mutter, »in Gegenwart einer jungen Dame« nicht ordentlich benahmen. Und Paula spielte bei all dem auch noch mit, lächelte zuckersüß und sagte brav »danke« und »bitte«.
Zu Hause war sie nie so, die Jungs hatten echt keine Ahnung. Vor Jakob hatten sie allerdings keinen Respekt. Er wurde sofort von den Buben vereinnahmt, in das Zimmer des einen oder anderen geschleppt und nach wenigen Minuten begannen sie unweigerlich, sich zu raufen. Meistens zwei gegen zwei, in wechselnden Konstellationen. So gnadenlos rau ging es bei Fleischmanns zu, dass er sich nach wenigen Minuten unwohl fühlte. So wäre die Welt, wenn es keine Frauen gäbe, dachte er einmal. Ein schauderlicher Gedanke – das Leben wäre ein ständiger Kampf um Raum, Essen und Aufmerksamkeit. Ohne jede Aussicht auf Wärme oder auch nur eine Verschnaufpause.
Ob das Mädchen auf dem Gepäckträger auch Geschwister hatte? Ausländer haben ja oft viele Kinder. Aber das konnte er sie nicht fragen.
Das Pfarrhaus, in dem die Fleischmanns wohnten, lag direkt an der Straße, ein schönes, altes Haus. Eine breite Treppe führte zur Eingangstür. Leuchtend rote Geranien zierten die Blumenkästen vor den Sprossenfenstern.
Jakob zog den Kopf ein, obwohl die Gefahr gering war, dass einer der Buben gerade jetzt aus dem Fenster sah. Wenn sie nicht auf dem Fußballplatz waren, spielten sie meistens mit ihrem Atari oder sie prügelten sich, wer einen Joystick haben durfte, es gab nämlich nur zwei. Wahrscheinlich würden sie sich aber auch prügeln, wenn sie nur zu zweit waren. Dann darum, wer auf den Sessel durfte und wer auf das Sofa musste, das bei ihnen aus irgendwelchen Gründen weniger beliebt war.
Es ging vorbei an einem kleinen Lebensmittelgeschäft mit Lotto-Annahmestelle, einem Kriegerdenkmal in Form eines knieenden Soldaten, das ganz anders aussah als das abstrakte Standbild in Maunzdorf, und einem Gasthaus mit dem Namen Schwarzer Adler. Auf der einen Seite der Tür hingen zwei Kaugummiautomaten, einer mit Süßigkeiten, einer mit Kugeln, die mit kleinen Spielzeugen gefüllt waren, auf der anderen ein Zigarettenautomat, aus dem sich ein dicker Mann gerade ein Päckchen zog. Danach ein großer Bauernhof, vor dem ein Schäferhund an einer Kette wachte und sie nicht aus den Augen ließ.
Dann hatten sie auch diesen Planeten verlassen, den letzten Außenposten der Zivilisation.
»Neustadt 5 km« stand auf dem Schild.
Der Schwung, den er von dem leichten Gefälle hatte, war aufgebraucht und er musste wieder treten. Wenn kein Wind von der Seite kam, spürte er die Hitze, die vom Asphalt abstrahlte. Das breite, schwarze Band zog sich mit nur wenigen kleinen Knicken durch hohe, grüne Maisfelder und gelbe Weizenfelder bis zur Stadt.
Das Mädchen war völlig still. Wie konnte sie nur so lange nichts sagen? Seine Mutter hätte längst etwas gesagt. Zumindest geseufzt oder gegähnt oder sich geräuspert oder so. Wahrscheinlich aber eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Oder erzählt, was irgendwelche Leute gemacht oder gesagt hatten. Leute, die er nicht kannte. Wenn er dann fragte, wer das war, hätte sie ihm so etwas erklärt wie ›Das ist doch der Bruder von Sofies Mutter. Die dir in der zweiten Klasse ein Matchbox-Auto geschenkt hat.‹ Warum es sie kümmerte, was irgendwelche Leute taten oder sagten, begriff er nicht. Vielleicht waren Frauen so, die Mädchen in seiner Klasse quatschten auch den ganzen Tag … aber die würden sowieso nicht auf seinem Fahrrad mitfahren.
Jungs raufen und Mädchen reden. Er tat weder das eine noch das andere. Was war er ?
Und was war sie? Dieses Mädchen sagte gar nichts. Am Ende konnte sie nicht gut Deutsch? Er dachte nach. Was hatte sie denn bisher überhaupt schon gesagt? ›Kein Bus‹ und ›Okay‹? Ihm war zwar kein Akzent aufgefallen, aber womöglich hatte sie einfach noch nicht genug gesagt, um das festzustellen.
Wie sollte er reagieren, wenn er in Neustadt jemanden aus seiner Klasse traf? Das könnte ja ohne Weiteres passieren. Wenn es ein Mädchen wäre, war die Antwort einfach: Er würde gar nichts sagen. Angeblich standen Mädchen ja darauf, wenn ein Typ noch andere Mädchen hatte. Das machte ihn erst interessant. Neulich hatte Claudia am Ende der Englischstunde gefragt, was Jungs und Klos gemeinsam hätten. ›Entweder besetzt oder beschissen‹ war die Antwort. Die Mädchen hatten laut gelacht, Jakob hatte so getan, als hätte er es nicht gehört. Besetzt war er jedenfalls nicht.
Und wenn er einen seiner Freunde träfe? Spätestens, wenn die Schule wieder anging, würden sie dann fragen, mit wem er da unterwegs gewesen war. Oder sogar anrufen. Wenn er dann irgendwas Cooles sagte? ›Halt so ’ne Tuss‹ oder so? Ach nein, das würden sie ihm ja doch nie abnehmen. Es war auch nicht wirklich cool, kilometerweit ein Mädchen auf dem Gepäckträger durch die Gegend zu fahren.
Die lange Kurve markierte erst die Hälfte der Strecke. Aber daran durfte man nicht denken. Es galt, den Blick nach vorne zu richten. Man konnte bereits die Türme der beiden Kirchen sehen und die Spitze des Torhauses. Oben am Hügel lag seine Schule, daneben die Realschule. Beide waren gleich hässliche Betonbauten. Von hier war sogar schon der hohe, schmale Schornstein sichtbar, auf den vor zwei Jahren mal einer aus der Siebten geklettert war. Deswegen war damals sogar die Feuerwehr angerückt.
Jakob fuhr mit seinem schweigsamen Gast am Ortsschild vorbei. Reihenhäuser, Wohnblocks, ein Zebrastreifen, links die Praxis von Jakobs altem Kinderarzt, an den er sich nicht mehr erinnern konnte, von dem seine Mutter aber jedes Mal erzählte. Dann das Zentrum.
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