Svenja hatte einen Sack über dem Kopf, aber der war so weitmaschig, dass sie ihre Umgebung zumindest undeutlich erkennen konnte.
Sie befand sich in einem dunklen Raum, wie groß, konnte sie nicht erkennen. Sie hatte aber das Gefühl, dass es ein großer Raum war. Einfach, weil man es spürt, wenn man in einem kleinen Raum ist. Oben waren ein paar helle Flecke zu erkennen. Es roch nach Staub, Moder und noch etwas anderem, das ihr bekannt vorkam, das sie aber nicht zuordnen konnte.
War sie noch in dem Stall, in dem sie überfallen worden war? Es wäre möglich, obwohl dieser eigenartige Geruch vorher nicht da gewesen war. Zumindest schien es ihr so, vielleicht hatte sie ihn auch nur nicht bemerkt.
Anfangs hatte sie sich gefragt, was mit Marco passiert war und ob er womöglich auch niedergeschlagen worden war. Sie hatte versucht, zu erkennen, ob er bewusstlos neben ihr lag und vielleicht Hilfe brauchte. Sie hatte sich alle möglichen Szenarien ausgemalt, in denen er als ihr unerschrockener Retter alles daran setzte, sie aus den Klauen des Entführers zu befreien. Und andere, in denen sie ihn retten musste.
Erst langsam dämmerte ihr die schreckliche Wahrheit – es gab hier keinen Marco. Überhaupt nicht. Den Brief hatte nicht er geschrieben, sondern jemand anderes. Die Nachricht war eine Falle, die einzig für sie bestimmt war.
Diese Erkenntnis hatte sie in Panik versetzt. Sie hatte versucht, Lärm zu machen, aber ihre Füße waren so nah am Rand der Kiste, dass sie nicht richtig ausholen konnte. Wenn sie ihren Kopf nach hinten schlug, war das ziemlich laut und sie hatte es ein paar Mal gemacht. Aber niemand kam und nach ein paar Minuten schmerzte ihr Kopf.
Sie wurde ruhig. Jetzt spürte sie die Hitze erst richtig. Die Hitze und die Trockenheit. Svenjas Haut glühte, sie schwitzte kaum noch, so dehydriert war sie. Sie hatte fürchterlichen Durst. Sie konnte kaum noch an etwas anderes denken als an Wasser.
Irgendwann schlief sie ein, einen unruhigen, von kurzen, halb bewusstlosen Wachphasen und schlechten Träumen unterbrochenen Schlaf.
Vermutlich hätte er es auch tagsüber tun können, aber er wollte nichts riskieren.
Jakob schlich nach unten. Seine Mutter war gleich nach dem Heute Journal ins Bett, sein Vater war um etwa 11 Uhr nach oben gegangen. Seitdem hatte er nichts mehr gehört. Paula hatte das Telefon in ihr Zimmer mitgenommen und noch mit einer Freundin telefoniert, bis Mutter an die Tür klopfte. Dann hatte seine Schwester das Telefon nach unten gebracht und schnell in die Ladeschale gestellt. Sicher wollte sie nicht, dass jemand nachsah, mit welcher Nummer und wie lange sie gesprochen hatte.
Als er gut 10 Minuten lang kein Geräusch im Haus gehört hatte, öffnete Jakob seine Tür. Der Teppichboden in Innern seines Zimmers war nicht ordentlich geklebt und warf kleine Wellen, sodass die Tür über die dicken, orangefarbenen Schlaufen schleifte. Öffnete man sie zu langsam, verhakten sich manchmal winzige Schlingen im rauen Holz der Tür und knallten regelrecht. Vorsichtig drückte er die Klinke und zog die Tür in der perfekten Geschwindigkeit zu sich. Zu hören war kaum mehr als eine Art verhaltenes Fegen. In der gleichen Geschwindigkeit schloss Jakob die Tür wieder. Bis jetzt war alles gut gegangen. Aber wenn Paula nun die Tür öffnete, hätte er Schwierigkeiten zu erklären, warum er im Dunkeln aufs Klo durch den Flur wandelte. Die Ausrede, die er sich zurechtgelegt hatte, dass er auf die Toilette wollte und das Licht nicht einschaltete, um niemanden zu wecken, würde sie ihm keine Sekunde lang glauben. Mama wahrscheinlich auch nicht, aber sie würde es bei einem Schulterzucken bewenden lassen.
Paulas Zimmer lag neben seinem. Sie hatte das Schlüsselloch in der Tür mit Papier zugestopft, sodass es immer schwarz war, aber auch durch auch den Spalt unter ihrer Tür drang kein Licht, es musste drinnen also ganz dunkel sein.
Unbehelligt erreichte er die Treppe. Er umfasste das Geländer und machte sich an den Abstieg. Jakob vermied die vorletzte Stufe, die laut knarrte, wenn man sie betrat. Er war im unteren Flur. Mondlicht fiel durch das große, vergitterte Fenster und malte ein helles Rechteck auf den grauen Steinboden. Jakob holte seine Straßenschuhe und nahm sie in die Hand. Dann ging er zur Wohnzimmertür. Hier musste man besonders vorsichtig sein, aber Jakob wusste, wann er drücken, wann sacht hochheben und wann ziehen musste, um sie völlig geräuschlos zu öffnen.
Dagegen stellte die Terrassentür überhaupt kein Problem dar, seitdem sie letzten Sommer eine neue bekommen hatten, war es schier unmöglich geworden, sie laut zu öffnen. Er trat hinaus in den Garten.
Es war immer noch warm, aber kein Vergleich zur Hitze des Tages. Der Mond stand voll am Himmel und strahlte so hell, dass man die dunklen Krater auf seiner Oberfläche beinahe nicht erkennen konnte. Er wirkte fast ein wenig künstlich, wie ein kleiner Scheinwerfer, der über dem Garten aufgehängt war.
Jakob brauchte etwas Zeit, um sich zu orientieren. Er kannte den Garten wie seine Westentasche, doch mutete er bei Nacht völlig anders an. Die Schatten unter den niedrigen Büschen und Hecken waren undurchdringlich und die Stämme der schönen, schlanken Birken leuchteten fahl und bedrohlich. Gab es nicht irgendeine Geschichte mit Birken und Hexen?
Beim Gedanken an den Wald schauderte er. Ein Blick an das Ende des Gartens enthüllte eine finstere Armee aus Riesen, die im Begriff war, den schützenden Zaun zu überrennen.
Im Haus von Herrn Hemborg brannte noch Licht, vielleicht ließ es der alte Mann einfach brennen. Der alte Stall neben seinem Haus lag im Dunkeln. Vor ein paar Jahren hatten Paula und er sich einmal dorthin geschlichen. Das war sehr aufregend, weil sie immer damit rechnen mussten, erwischt zu werden, und dann würde Herr Hemborg seine Bienen auf sie hetzen.
Der Stall selbst war aber sehr enttäuschend gewesen. Das Gebäude war ziemlich baufällig und das einzige, was sie darin fanden, waren leere Kisten und Gerümpel. Außerdem hatte es darin so penetrant gestunken, dass sie es nicht lange ausgehalten hatten. Paula meinte, dass bestimmt irgendwo tote Mäuse oder Ratten lagen und langsam verwesten. Jakob sah unbehaglich auf seine in den Sandalen bloßen Füße, ob er nicht gerade in einem toten Nager stand und Paula lachte schallend. Bis heute wusste er nicht, ob sie das mit den toten Tieren nur erzählt hatte, um ihn zu veräppeln, oder ob sie es wirklich glaubte. Es wäre plausibel, oder? Aber so, wie sie dann gelacht hatte, das klang nach Verarsche … Warum nur gelang es ihr immer, ihn auf den Arm zu nehmen? Wie schaffte sie das nur?
In der Dunkelheit fielen die roten Blätter der Zierkirsche gar nicht mehr auf. Die Nacht hatte den Baum den anderen gleichgemacht. Jakob tastete um den Stamm herum und fand den schmalen Schlitz auf der Rückseite. Seine Hände glitten hinein und ertasteten, was er suchte. Als er sie nach vorne holte, hielt er in seiner rechten ein altes Messer. Er hielt die Klinge schräg nach oben, aber sie schimmerte nicht im Mondlicht. Das Metall war völlig matt. Es war kein Jagdmesser, nicht mal ein Schnitz- oder Taschenmesser, nur ein Messer, das mal jemand zum Essen benutzt hatte. Ein Besteckteil, Edelstahl rostfrei. Trotzdem hatte es Rostflecken. Noch dazu war die Klinge stumpf.
Er schob einen Haufen Zweige und Reisig zur Seite. Aus der Gesäßtasche seiner Jeans zog er eine kleine Plastiktüte und legte sie neben sich auf den Boden. Dann kniete er sich hin und begann mit dem Messer zu graben.
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