Plötzlich gingen die Scheinwerfer an und das Licht glitt über die Wiese. Überall machten die Leute Liebe, es war ein riesiges Knäuel aus Armen, Beinen und nackten Hintern. Felix nutzte blitzschnell den Augenblick für weitere Aufnahmen, bevor das Licht wieder ausging. Es war wieder dunkel und im Schutz der Dunkelheit fielen auch bei den Letzten die Hemmungen. Dieses Festival würde als Love-and-Peace-Festival in die Analen der Rockgeschichte eingehen, im wahrsten Sinne des Wortes.
„Lass uns Backstage gehen", sagte Regina, „ich möchte sehen, was da abgeht."
Vom Pressezelt ging es in den VIP-Raum, wo die Musiker sich nach ihrem Auftritt aufhielten. Die Hardrocker von Red Zeppelin waren von einem Schwarm von halbnackten, kreischenden Groupies umringt.
Eine rief: „Ich will ein Kind von Dir!"
Der muskulöse Sänger zog sie am Arm aus dem Schwarm wie ein Angler den Fisch aus dem Teich und trug sie nach hinten in einen mit Vorhängen abgeteilten Bereich. Felix hatte blitzschnell reagiert und das Geschehen festgehalten.
Jetzt kreischten die zurückgebliebenen Frauen: „Take me, too! Take me, too!" („Nimm mich auch!") Bassist, Sologitarrist und Schlagzeuger trafen ihre Wahl und verschwanden mit den kreischenden Mädchen im Separee. Der Schlagzeuger hatte sogar in jedem Arm ein Mädchen und rief: „I take two!“
Der zweite VIP-Raum war den Musikern vorbehalten, die ihren Auftritt noch vor sich hatten. Dort stand jetzt Jonny Rix mit seiner Lead-Gitarre, spielte sich warm und gurgelte mit Whisky. Auch die Friends machten sich startklar und zogen einen Joint durch. Ein Roady meldete, dass der Aufbau fertig sei. Jonny Rix wurde unruhig und verschwand im Separee. Der Ansager war schon auf der Bühne und sagte seinen Auftritt an, als er wieder zurückkam, seine Gitarre griff und von den Friends auf die Bühne geleitet wurde.
„Liebe Musikfreunde, auf unserem ersten Ruissalo-Rockfestival und zum ersten Mal in Finnland darf ich jetzt begrüßen: Jonny Rix and friends!“
Zwei Verfolger-Scheinwerfer flammten auf und nahmen Jonny Rix ins Visier, der mit seiner lässig umgeschnallten Gitarre über dem farbenfrohen Hemd zum Mikrofon schritt. Sein Kraushaar hatte er mit einem schmalen roten Stirnband gebändigt.
„Hi folks!" ("Hallo Leute!")
Jubel brandete auf und frenetischer Beifall.
„The first song is dedicated to my friends and countrymen, who are in this moment in Vietnam and are forced to fight in a war, that is not their war, but the war of the american government. It ´s called: "Fuck the Army!"
(„Das erste Stück ist meinen Freunden und Landsleuten gewidmet, die in diesem Moment in Vietnam sind und gezwungen werden, in einem Krieg zu kämpfen, der nicht ihr Krieg ist, sondern der Krieg der amerikanischen Regierung. Es heißt: "Raus aus der Armee!")
Er nahm die Gitarre und spielte die amerikanische Nationalhymne. Nach der ersten Strophe veränderte er die Melodie und begann frei zu improvisieren. Erst wurde es unmelodisch, dann imitierten die Musiker auf ihren Instrumenten und Effekt-Geräten Maschinengewehr-Salven und Bombeneinschläge. Dazwischen hörte man immer wieder die Nationalhymne anklingen. Schließlich war alles nur noch ein großes Chaos und mit dem Gesangs-Mikrofon verursachte er vor den Monitor-Boxen auf der Bühne ein Rückkopplungspfeifen, dass sich den Zuhörern die Trommelfelle kräuselten. Es war kaum zu ertragen und ging an die Schmerzgrenze. Plötzlich hörte er auf und in die Stille brandete der Applaus.
„I hope you will support all those Americans, who leave their country and flee to Europe to oppose the military service and the war in Vietnam." („Ich hoffe, ihr werdet alle Amerikaner unterstützen, die ihr Land verlassen und nach Europa flüchten, um sich dem Militärdienst und dem Krieg in Vietnam zu widersetzen.“)
Der Beifall des Publikums wurde noch lauter, kein Zweifel, die jungen Leute waren seiner Meinung. Er fing wieder an zu spielen auf seiner Gitarre und die anderen Musiker reihten sich in das Stück ein.
„Wir müssen einen Ausweg finden“, sagte der Clown zum Dieb,
hier ist so ein Durcheinander,
ich kann ́s nicht mehr ertragen. Geschäftemacher trinken meinen Wein, Diener essen mein Brot, und keiner weiß meine Arbeit zu schätzen.
„Kein Grund zur Aufregung“, murmelte der Dieb unfreundlich,
„viele von uns denken,
dass das Leben ein Witz ist.
Du und ich haben das erlebt, aber dafür ist jetzt keine Zeit, rede keinen Unsinn, denn es ist schon spät.“
Die ganze Zeit stand die Prinzessin Wache auf dem Burgturm,
während die anderen Frauen und die barfüßigen Diener geschäftig umhergingen. In der Ferne heulten die Wölfe,
zwei Reiter näherten sich im Galopp und um den Wachtturm tobte der Wind.
Der Sänger begleitete das Lied mit kunstvollen Gitarrensoli, dann klang das Stück aus und er begann mit einem neuen Song.
„Schwermut liegt auf meiner Seele, denn ich weiß nur was,
aber weiß nicht wie.
Süße Gefühle fließen in mein Blut,
meine Seele ist manisch und depressiv.
Frauen küssen mich vergeblich.
Ich will Liebe versprechen.
Ich will Liebe brechen.
Wenn Du am Ende bist,
ist alles egal.
Nur die Musik
möchte ich streicheln und küssen,
manische Depression ist ein furchtbarer Krieg.
Ich denke, ich werde gehen,
es hat keinen Sinn mehr, herumzustehen.
Nur die Musik
möchte ich streicheln und küssen,
Manische Depression ist ein furchtbarer Krieg, süß ist nur die Musik.“
Jonny Rix spielte ein wunderschönes Solo und ließ seine Gitarre in allen Klangfarben erklingen und am Ende heulte sie nochmal auf wie ein Wolf. Dann kam das nächste Stück.
There is no tomorrow,
just a here and now,
said the rich man to the poor.
Tomorrow you will never touch, it ́s always ahead!
Why do you worry about future?
Because I know, said the poor man, that I will be black tomorrow, the same like yesterday.
(Es gibt kein morgen,
nur das hier und jetzt,
sagte der Reiche zum Armen.
Das morgen kannst Du nie berühren, es ist Dir immer voraus! Warum sich sorgen um die Zukunft?
Weil ich weiß, sagte der arme Mann,
dass ich morgen immer noch schwarz sein werde, genau wie gestern.)
Jonny Rix spielte zwischen den Strophen Gitarrenriffs, erst normal, dann die Gitarre auf dem Rücken haltend, schließlich mit den Zähnen. Die Menge war beeindruckt und quittierte die Showeinlagen mit frenetischem Beifall. Dann kam das nächste Stück.
„Lila Nebel ist in meinem Kopf, alles sieht so anders aus,
ich muss lachen ohne Grund, Entschuldigung, ich muss den Himmel küssen.
Lila Nebel ist um mich herum,
weiß nicht, geht’s bergauf, geht’s bergab, bin ich glücklich oder geht ́s mir schlecht? Sicher hat mich diese Frau verhext!
Lila Nebel ist in meinen Augen,
ist es Tag, ist es Nacht?
Mein Gehirn zerfließt wie Spiegelei, ist das das Ende, ist es vorbei?
Hilf mir Schwester, Hilf mir Bruder, ich halt ́s nicht mehr aus,
mein Gehirn fliegt mit dem Wind hinaus, das Spiel ist aus!“
Uschi schob sich mit weit geöffneten Pupillen durch die Menge, gefolgt von Dieter. Sie war auf dem Höhepunkt ihres Trips, der langsam seine Wirkung entwickelt hatte und dann immer stärker wurde. Zunächst hatten sich die Farben der Scheinwerfer verändert, dann die Formen der Gesichter der Leute. Die Leute, die überall zusammenlagen, hatten sich für sie in junge Hunde verwandelt, die einander an den intimsten Stellen beschnüffelten und miteinander spielten. Dieter hatte sich zu einen Cockerspaniel entwickelt, der sie mit treuen Augen anschaute und ihr überall hin folgte. Dann hatte ein Typ sie angegrabscht und auf den Hintern gehauen. Empört hatte sie ihm eine geklatscht, was ihn dazu veranlasst hatte, sie mit beiden Armen zu umschlingen und zu versuchen, sie zu küssen. Dabei schrie er: „Minä rakastan sinua!“ („Ich liebe Dich!“) Anscheinend war er total betrunken.
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