Als habe es ihn noch nie gegeben. Doch die Spuren der Zeit sind noch sehr frisch und lebendig.
Ich weiss nicht, wie lange ich gefahren bin. An der mir vertrauten Haltestelle steige ich aus. Ich
sehe noch lange mit leeren Blicken der Strassenbahn nach, welche klappernd und ratternd
davon fährt.
Plötzlich erscheint mir der Gedanke entsetzlich, dass John, wenn ich ins Haus reingehe, vor meinen
Augen auftauchen würde. Es kommt mir unwahrscheinlich vor, doch es ist mein sehnlichster Wunsch,
weil ich etwas anderes nicht wahrhaben will.
In grösster Melancholie lasse ich meinen Blick auf den Balkon im zweiten Stock gleiten; da wieder,
es kommt mir vor, er stünde da und beobachte mich mit einem herzlichen Lächeln, wie ein Blitz
taucht die Szene vor meinen Augen auf. An dem Frontfenster, dessen Vorhänge zugezogen sind,
bleiben meine Gedanken hängen; „John hat seine Vorhänge schon zugezogen“, geht es mir
durch den Kopf, dabei, wenn ich genauer hinsehe, waren sie schon seit Ewigkeit zugezogen.
Nach dem ich ins Haus hineingetreten bin, wende mich vom Fahrstuhl ab, gehe die Treppe hinauf,
wie an unserem ersten Tag, und stehe schon bald im zweiten Stock. Mit einem mal liegt meine Hand
auf dem Türgriff seiner Wohnung, mein Herz schmerzt und flattert.
Eine Erregung durchströmt mich, als ob John in jedem Augenblick vor mir stünde, mein Kopf sinkt
nach unten; auf einmal ziehe ich wieder meine Hand zurück, als ob ich mich daran stark verbrennt hätte.
Die letzte Kraft in meinen Beinen wurde mir genommen, deshalb nehme ich den Lift, um zum
dritten Stock in meine Wohnung zu gelangen. Aber da treffe ich seinen flehenden Blick, wieder,
wie ein Blitz vor mir, bevor die Lifttüren zugehen.
Das ganze Haus kommt mir menschenleer, wie ausgestorben vor. Nur das Zischen und das Dröhnen
der Türen sind zu hören.
Auch in unserer Wohnung liegt Todesstille, denke ich traurig, auch sie liegt in Trümmern der
Trauer. Trotzdem hoffe ich, die herzliche, liebliche Stimme zu hören, die ich dringend brauche.
Aber es scheint, als hätte mein Mann Dan seine Warnungen in die Tat umgesetzt und mich
verlassen.
Bis zum letzten Moment habe ich nicht aufgegeben, nach Dan zu suchen.
4-DAS VERSPRECHEN
„Es war mir nicht gleichgültig, das Leben ohne Dan weiter zu gehen, er bedeutete mir sehr viel,
dennoch sah er die Gründe aus seinen eigenen Augenwinkeln und beschloss, von zu Hause
wegzuziehen“, denke ich bedrückt vor mich hin.
Ich seufze mehrmals, komm mir verloren vor. „Nun bin ich Vollwaise“, murmele ich verzweifelt,
„…habe zwei geliebte Menschen in verschiedener Weise verloren.“ Die Ereignisse und Vorkommnisse
geben mir zu denken. Plötzlich habe ich grosse Angst, was die Zukunft mir brächte. Es fällt mir
schwer, mich allein gegen die Zukunft zu stellen.
Mir wird klar, wie sehr die Traurigkeit um die geliebten Menschen einen ermüden kann. Ich bin
abgespannt, ausgelaugt und müde; spüre immer noch die Kälte unter meinem dicken Mantel, den
ich noch anhabe.
Dann wird mir der Boden unter meinen Füssen weggezogen, ich halte mich an der Wand fest und
unterdrücke schwer meine Übelkeit. „Ich habe mich übernommen“, denke ich betrübt. Für einen
Moment bin ich abgelenkt, glaube Johns Klavier zu hören. Er spielt ein trauriges Lied.
Meine Trauer geht in Hysterie über, nervös schaue ich im grossen Salon umher, nähere mich der grossen Kommode neben dem grossen Frontfenster. Die irdischen Güter haben keinen Wert mehr, denke ich. Ich habe einen Freund verloren, der mir so nah war! Ich schmeisse mit einer Wucht die teure Vase aus unserer Chinareise und die sündhaft teure Kinoanlage umher, deren einzelne Teile
durch den Prall lösen, prasselnd auf den Boden knallen, wo schon die Vase in Scherben liegt.
Es hat Platz gegeben für die Urne!
Ich halte sie immer noch in der Hand, stelle sie auf die Kommode und horche nach unten, suche
nach Stimmen, nach leisem Tür öffnen oder schliessen, nach seinen Klavierklängen. Alles bleibt
still, mit ihm verstorben, ich horche vergeblich weiter. Seine Wohnung bleibt still, voller Kälte und voller Trauer. Ich lege den Finger auf meine Lippen, lasse den Kuss auf die Kremationsvase gleiten. „Du bist bei mir, John, so lange ich lebe“.
Welch Zufall uns zusammenführte.- Ja! Das war vom Schicksal bestimmt, dass wir zusammenkommen sollten. Wenn ich John nicht begegnet wäre, hätte ich diese aussergewöhnlichen
Gefühle jemals gekannt?-, wiederholte ich vor dem grossen Frontfenster. Ich hatte das Glück, John
kennenzulernen, ahnte aber nicht, dass dies mit grosser Trauer verbunden war.
Alle meine unbekannten Hoffnungen brachten mich zu ihm. Ich war es. Ja! Ich war glücklich mit
ihm, auf eine Art, die ich vorher nie gekannt hatte. Und jetzt; als ob es ihn nie gegeben, er nicht existiert hätte.
Nur die Erinnerungen an ihn und die Gefühle mit ihm begleiten mich und er ist überall, zu jeder
Zeit allgegenwärtig.
Wie er seine Heiterkeit und Lebensenergie verlor, hätte ich nie gedacht, wenn ich es nicht mir meinen eigenen Augen gesehen hätte, wie seine Augen langsam erloschen und er schliesslich den Tod fand.
Ich genoss die kurzen Augenblicke mit John, hatte mir Geschichten ausgedacht über ihn und mich.
Bei Tag und Nacht. Obwohl ich mit Dan glücklich verheiratet war.
5-DAS VERSPRECHEN
Es zerriss mir das Herz, dass diese Augenblicke mir viel zu kurz vorgekommen sind und
mir nicht länger gegönnt waren.
Es war schön, seine Liebe zu geniessen.
Wie ein Zauber tauchte er in mein Leben. Ja, der Zauber war er! Und so schnell wurde dieser
Zauber beendet durch eine harte, grausame Tragödie. Was geblieben war…
„Es tut mir leid, John…es tut mir so leid, dass ich nicht viel früher an deine Krankheit glauben konnte…“
„Es tut mir so leid, dass wir nur die kurze Zeit miteinander verbracht haben, aber doch intensiver
denn je…“
Der Morgen wird nicht mehr derselbe sein.
Mit Sicherheit werde ich nicht nur ihn und die Abende mit Klavierklängen vermissen, sondern in
jedem Zusammenhang; in jedem Zimmer nach ihm horchen, mir darüber Gedanken machen, womit
er sich jetzt beschäftige, die Hoffnung haben, ihn wiederzusehen und mich mit ihm zu treffen. Das
alles werde ich sehr vermissen und damit war alles Besondere vorbei.
In jedem Augenwinkel liegen Bruchteile der Erinnerungsstücke.
Die Wohnung bedrückt mich, kommt mir bedrohlich vor. Mit einem Satz bin ich draussen.
Jetzt stehe ich auf dem Balkon, die eiskalte Luft um mich her spürend, sehe die Welt unter dem
Grauschleier. Der Verkehr hat zugenommen, hier und da brennen schon die Lichter in den Häusern.
Die Wintersonne schien niemals aufgegangen zu sein. Der kühle Wind streift wieder über meinen
Kopf hinweg, wirft mein schulterlanges Haar nach hinten. Gänsehaut durchzuckt mich und meinen ganzen Körper. Ich bleibe trotzdem stur stehen. Meine Gedanken klammern sich wieder fest an die
Erinnerungen, an meine aussergewöhnliche Liebe. JOHN DERBY.
Dicker Nebel verbreitet sich in kalter Luft. Einen tiefen Blick werfe ich über die Stadt und in die
Ferne. Wie gern hätte ich ihn noch einmal gesehen und mich mit ihm getroffen. Aber er ist nicht
mehr da, an einem Ort, wo es keine Wiederkehr gibt. Seine Liebe wird ewig in meinem Herzen
ruhen für immer und mit tiefer Trauer verbunden sein.
Es kommt mir vor, als ob ich eine lange Reise angetreten habe, die mit freudigen Überraschungen
angefangen, mit einem Albtraum beendet wurde. Obwohl ich diesen Albtraum im wirklichen Leben durchlebte, kann ich ihn nicht wahrnehmen.
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