»Nicht viel, nur eine Kleinigkeit!« Die Stimme des Riesen dröhnte so laut, dass Gilgal hoffte, der ganze Palast würde zusammenlaufen und ihm zu Hilfe eilen. Schwer legte ihm die furchterregende Gestalt die Hand auf die Schulter.
»Ich stehe zu deinen Diensten, erhabener Herr«, stammelte Gilgal.
»Wunderbar!«, dröhnte der Hüne. »Wenn du zu meinen Diensten stehst, wirst du heute ganz sicher dem König berichten, dass Siduris Sohn Ninzub der fleißigste und klügste deiner Schüler ist!« Und zur Bekräftigung seiner Worte fasste er Gilgal vorne am Obergewand und hob ihn ein wenig in die Höhe.
»Erhabener Herr, das kann ich nicht!«, jammerte Gilgal. Der Riese hob den Oberschreiber noch ein wenig höher.
»Und warum nicht?«
»Es entspricht nicht der Wahrheit. Ninzub ist ein Dummkopf, ein Faulpelz und ein Tunichtgut!«
Der Riese schüttelte Gilgal wie einen leeren Getreidesack.
»Täuschst du dich da nicht?« Seine Stimme klang drohend wie Donnergrollen.
»Nein, erhabener Herr. Ich täusche mich nicht. Ich bin schließlich sein Lehrer!«, wimmerte Gilgal von der Zimmerdecke herunter.
»Oh weh, ich glaube, die Sommersonne hat dein Gehirn vertrocknet!«, dröhnte der schreckliche Hüne. »Aber an der frischen Luft wird dir bestimmt gleich wieder einfallen, dass Ninzub der klügste und eifrigste von allen deinen Schülern ist!« Er klemmte sich Gilgal unter den Arm und schwebte mit ihm zur Tür hinaus.
Gilgal wollte schreien, aber die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er wagte nicht nach unten zu sehen, als er, gehalten vom Klammergriff des Geistes, über die Dächer Babylons hinweg schwebte.
»Nun«, tönte der Riese, »ist dir jetzt wieder eingefallen, dass Ninzub der klügste und beste deiner Schüler ist?«
»Aber nein, aber nein, das stimmt nicht!«, jammerte Gilgal.
»Dann lass ich dich jetzt in den Euphrat fallen, damit das Wasser des Flusses dein vertrocknetes Gehirn wieder aufweicht!«, drohte der Peiniger des armen Oberschreibers. Gilgal schlug die Augen auf und sah weit unter sich die Fluten des Euphrats im Sonnenlicht glänzen.
»Erbarmen! Hab Erbarmen mit mir! Ich kann nicht schwimmen!«, schrie der Lehrer in höchster Not. Der Geist hielt Gilgal mit einer Hand am Obergewand gepackt.
»Wer ist dein bester Schüler?«
»Ninzub! Ninzub ist mein bester Schüler!«
»Na also!«, ertönte zufrieden die Stimme des Riesen.
»Weh mir«, klagte Gilgal, »der Zorn des Königs wird schrecklich sein!«
»Vergiss des Königs Zorn«, warnte der Riese, »mein Zorn wäre noch viel schrecklicher!«
Nebukadnezar, Herrscher über Babylon und Sieger über das Ost- und Westland, ließ sich würdevoll auf dem reich verzierten Thronsessel nieder, den seine Diener im Schulzimmer der Königssöhne aufgestellt hatten. König Nebukadnezar legte großen Wert auf die Ausbildung seiner Söhne. Nicht nur im Kriegshandwerk, nein, der König wollte, dass sie auch im Lesen und Schreiben der Keilschrift unterwiesen wurden und dass sie rechnen konnten. Und sie sollten die Gesetze kennen, die vor langer Zeit der weise König Hammurabi erlassen hatte, damit auch in Zukunft Gerechtigkeit und Ordnung in der Welt herrschten. Besonders von Eli, dem Sohn seiner ersten Gemahlin, erwartete er, dass er sich vor den Söhnen seiner zahlreichen Nebenfrauen hervortat. Schließlich sollte er der nächste König von Babylon sein. Ein König, der auf das Wissen eines Schreibers angewiesen war, weil er nicht imstande war, den Brief eines fremden Königs zu lesen, konnte belogen und betrogen werden. Ein König durfte weder ein ungebildeter Tölpel noch ein feiger oder ungeschickter Krieger sein. Wenn sich Nebukadnezar allerdings daran erinnerte, welch jämmerliches Schauspiel die jungen Prinzen, allen voran Eli, kürzlich auf dem Exerzierplatz geboten hatten, schwollen ihm noch heute die Zornesadern auf der Stirn. Zuerst war Eli kopfüber vom Streitwagen gefallen und dann, als ihm geheißen ward, mit dem Pfeil den Adler vom Himmel zu holen, hatte er zwar zitternd auf den Greifvogel gezielt – aber den alten Waffenmeister ins Hinterteil getroffen. Und seine anderen Sprösslinge? König Nebukadnezar mochte gar nicht mehr daran denken. Einzig Ninzub, den er immer für einen Feigling und Dummkopf gehalten hatte, war es gelungen, sich mehr schlecht als recht auf dem Streitwagen zu halten und mit dem Pfeil wenigstens in die Nähe des Ziels zu treffen.
Auf einen Wink des Königs teilte Gilgal weiche Tonklumpen aus. Gewissenhaft formten die Prüflinge aus dem Ton flache Tafeln, und als der König sie aufforderte: »Schreibt!«, nahmen sie ihre Schreibgriffel zur Hand.
»Das Schicksal ist ein Hund, es kann gut zubeißen. Es klebt an einem wie schmutzige Lumpen«, zitierte der König ein altes Sprichwort, das er einst als Schüler selbst hatte niederschreiben müssen. Eli beugte sich über seine Tafel, wollte den Griffel in den Ton drücken, aber die Tafel, die gerade noch weich und geschmeidig gewesen war, war plötzlich hart wie Stein, und mit einem lauten Knacks brach sein Griffel ab. Apil, Elis Halbbruder, setzte vorsichtig sein Schreibgerät an, aber auch seine Tafel war urplötzlich hart geworden, und als Apil erschrocken etwas stärker aufdrückte, brach die Tafel entzwei. Zababas Tafel zerfloss unter dem Schreibrohr zu weichem Matsch und Belschunu bekam nur einen tiefen Kratzer zustande, ehe auch sein Griffel zu Bruch ging. Einzig Ninzub gelang es, ein paar Keilschriftzeichen in den Ton zu drücken, wenngleich sie auch schief und krumm und noch dazu voller Fehler waren. Gilgal sah die ersten Zeichen des Unmutes auf des Königs gerunzelter Stirn und auf seine eigene Stirn traten dicke Schweißtropfen.
»Sie sollen aus den Gesetzen des weisen Königs Hammurabi lesen, dessen Stele ich den schändlichen Elamern entrissen und im Triumph nach Babylon zurückgebracht habe!«, befahl der König. [Das Land Elam lag im Südwesten des heutigen Iran] Gilgal verneigte sich tief und teilte, zitternd und schlotternd vor Angst, beschriftete Tafeln aus.
Nebukadnezar deutete auf Eli. »Lies!« Eli konnte sehr gut lesen. »Wenn ein Arzt den gebrochenen Knochen ...«, begann er, ohne zu stocken. Aber plötzlich verschwammen die Schriftzeichen vor seinen Augen, weil feiner Rauch über die Tontafel zog. Mal gab der Rauch dieses Zeichen frei, dann wieder das nächste, oder er bedeckte sie nur zur Hälfte. Er konnte nicht mehr erkennen, was die nächsten Zeichen bedeuten sollten und fing an zu stottern: »... eines M-Mannes – nein, es heißt: einer Frau - nein, eines Kindes – ich, ich weiß nicht ...« Die Zornesfalten auf des Königs Stirn wurden tiefer, und die Schweißtropfen auf Gilgals Stirn begannen abwärts zu rollen. Sie durchnässten seinen sorgsam gelockten Bart und tropften auf sein Obergewand.
»Lies du!«, befahl der König und deutete auf Belschunu.
»Wenn ein Arzt ...«, begann Belschunu und stockte, denn der feine Rauch verdeckte nun plötzlich seine Tafel. »Nein, ich glaube, es heißt: Wenn ein Bauer – nein, wenn ein Vogel – ich – ich kann es nicht lesen«, stotterte Belschunu.
»Was können die überhaupt?«, polterte der König voll Wut.
Gilgal vernahm den feinen, weißen Rauch, der sich in der Zimmerecke kräuselte.
»Erhabener König«, stammelte er und verbeugte sich bis auf den Fußboden, »hab Erbarmen mit deinem Diener! Ninzub kann alles. Ninzub ist der beste Schüler und der fleißigste. Ninzub ist der Klügste von allen. Ninzub ist mein bester Schüler. Ninzub ist mein bester Schüler ...«
Auch als die Wache des Königs den armen Gilgal längst abgeführt hatte, jammerte er noch immer: »Ninzub ist mein bester Schüler! Erbarmen! Ninzub ist mein bester Schüler ...«
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