„Ich werde vom Baum fallen“, rief Nea lachend aus, während sie den hohen Apfelbaum empor spähte.
„Wovor hast du mehr Angst? Vom Baum zu fallen oder überfallen zu werden?“, fragte Miro sie mit ernster Stimme. Ohne zu zögern warf er das
Seilende über den dicksten Ast und zog es fest.
So galant wie eine Katze erklomm er den Baum und grinste Nea von oben herab an: „Komm schon, Angsthase, ich helfe dir.“
Mit einem Seufzen gab Nea nach und zog sich an dem Seil den Baum empor, doch dabei war sie weder so schnell, noch so elegant wie Miro. Sie fühlte sich mehr wie ein nasser Sack Kartoffeln. Bei dem letzten Meter kam ihr Miro zur Hilfe. Mit einem festen Händedruck zog er sie neben sich auf den Ast. Während Miro in der Höhe stand, als hätte er schon immer auf einem Baum gelebt, hatte Nea Probleme, das Gleichgewicht zu halten. Nur ein Blick in Richtung Boden genügte, um sie zum Schwanken zu bringen. Verzweifelt klammerte sie sich an Miros Arm fest.
„Ich kann hier ja nicht mal stehen, wie kannst du dann von mir erwarten, hier zu schlafen?“
„Ich erwarte es nicht, es ist allein deine Entscheidung.“
Ohne sie weiter zu beachten, breitete er den Schlafsack auf dem Ast aus.
„Außerdem haben wir nur einen Schlafsack“, drängte Nea weiter.
„Seit wann stört dich das? Als wir noch in Betten geschlafen haben, bist du ohnehin jede Nacht zu mir gekommen“, zog Miro sie auf. Auch wenn sie nur seinen Rücken sah, konnte sie sein freches Grinsen vor sich sehen. Verärgert gab sie ihm einen leichten Stoß. Miro stolperte stärker, als sie erwartet hätte. Er wirkte so sicher, dass sie nicht gedacht hätte, dass etwas passieren könnte. Doch anscheinend konnte er sich plötzlich nicht mehr halten und stürzte vom Baum. In letzter Sekunde bekam er den Ast noch zu packen und hielt sich daran fest.
„Miro, Miro, das wollte ich nicht“, kreischte Nea, stürzte an seine Seite und streckte ihm hilfsbereit ihre Hände entgegen. „Komm, ich helfe dir.“
„Mach das bloß nicht noch einmal“, schimpfte Miro und ließ sich von ihr zurück auf den Ast helfen.
Kaum, dass er wieder sicher saß, begann er jedoch erneut schelmisch zu grinsen und äffte Neas Stimme nach: „Miro, darf ich bitte bei dir schlafen? Ich hatte einen Alptraum.“
Nea verkniff es sich, ihn erneut zu schlagen, stattdessen presste sie ihre Lippen schmollend aufeinander. „Dir ist das doch ganz recht. Du hast nämlich genauso Alpträume.“
„Ja, von dir, die mir jede Nacht die Hälfte meines Bettes klaut. Ich bete jeden Abend, wenigstens für eine Nacht mal mein Bett für mich alleine zu haben.“
An seinem Lächeln merkte sie, dass Miro sie nur weiter aufziehen wollte und seine Worte nicht ernst meinte.
„Gib es zu, ohne mich wärst du hoffnungslos verloren. Ohne mich könntest du nicht einmal schlafen.“
„Gar nichts gebe ich zu. Ohne dich müsste ich mir nicht immer dieses eingebildete Gerede anhören. Ohne dich hätte ich endlich meine Ruhe.“
Jetzt hat sie ihre Ruhe. Aber was gäbe sie nun dafür, noch einmal Miros überhebliche Stimme zu hören? Wütend schüttelt sie den Kopf, um die Gedanken an ihn zu vertreiben. Ein Blick durch das Blätterdach in den klaren Sternenhimmel reicht, damit ihre Augen zufallen und sie in einen traumlosen Schlaf versinkt.
Träume rauben einem oft die Kraft, da man in dieser Welt nur noch selten von schönen Dingen träumt. Meistens befindet man sich dann in einer Traumwelt, die der Realität nicht unähnlich ist. Nur mit dem Unterschied, dass sich eine ständige Nebelbank über alles legt und es oft noch grausamer zugeht, als es ohnehin schon ist. Wenn man dann morgens schweißgebadet zu sich kommt, verfolgen einen die Ängste der Nacht den ganzen Tag. Sie legen sich wie Wolken auf die eigene Konzentration, die in dieser Welt überlebensnotwendig geworden ist. Man muss auf jedes kleinste Knacken eines Zweiges lauschen und auf jeden eigenartig wirkenden Schatten achten, denn überall könnte ein Hinterhalt verborgen sein.
Ein leises Wimmern und Jaulen reist Nea aus dem Schlaf. Benommen öffnet sie die Augen und sieht, dass es langsam zu dämmern beginnt. Sie hört wieder das flehende Fiepen und erinnert sich an die Falle, die sie am Vorabend aufgestellt hat. Wahrscheinlich hatte sie Glück und es hat sich ein Tier darin verfangen, das nun verzweifelt zu entkommen versucht. Vorsichtig löst sie das Seil, welches sie auf dem Baum hält. Es fällt ihr nicht mehr schwer, sich im Baum sicher zu bewegen und in Ruhe ihr Nachtlager zusammenzupacken. Früher ist ihr dabei oft etwas heruntergefallen, und einmal hat sie sogar das Gleichgewicht verloren und ist selbst hinabgestürzt. Als sie nun wieder am Boden ankommt und ihre Falle betrachtet, ist sie mehr als enttäuscht. Nea hatte mit einem Marder oder einem Waschbären gerechnet, doch stattdessen befindet sich in dem Netz ein schmutziger, halbverhungerter Hund. Mit traurigen Augen schaut er zu ihr empor und winselt sie flehend an. Eigentlich wäre er sogar ein besserer Fang als ein Waschbär, einfach weil er größer ist, doch das arme Ding besteht nur noch aus Fell und Knochen. Noch nie hat sie einen Hund getötet. Nea zieht ihr Messer aus dem Hosenbund und kniet sich neben den Hund. Er zuckt kurz zusammen, doch dann blickt er ihr hilflos entgegen und wartet auf ihren nächsten Schritt.
‚ Wie dumm er doch ist’ , denkt Nea bei sich. Wäre sie an der Stelle des Hundes und jemand würde mit einem Messer vor ihr knien, würde sie mit aller Macht versuchen sich zu befreien, sie würde knurren und die Zähne fletschen. Doch dieser Hund sitzt nur da und wartet ergeben auf sein Schicksal. Umso leichter wird es für Nea, ihm die Kehle durchzuschneiden. Langsam bewegt sie ihr Messer in die Richtung seines Halses. Doch als sie gerade zum tödlichen Schnitt ansetzen will, schmiegt der Hund plötzlich seinen Kopf mit dem struppigen hellbraunen Fell an ihren Arm und leckt ihr mit seiner rauen Zunge über die Hand, die das Messer umklammert hält. Wie erstarrt blickt Nea den Hund an und weiß, dass sie es nun nicht mehr schaffen wird, ihn zu töten. Es ist lächerlich, denn er ist nicht mehr wert als ein Marder oder ein Kaninchen. Doch zu oft wurden ihr als Kind Geschichten von kleinen Hunden oder Katzen erzählt, sodass sie jetzt Skrupel hat, einen von ihnen zu töten. Als Kind hat sie sich immer einen Hund gewünscht. Nea lässt die Hand mit dem Messer langsam sinken und schaut dem Hund so böse, wie sie nur kann, in die Augen.
„Wage es nicht, mir zu folgen“, zischt sie ihm zu. Als Antwort bekommt sie jedoch ein freundliches Schwanzwedeln von ihm. Mit einem Seufzen befreit Nea den Kleinen aus seinem Gefängnis und ist heilfroh, dass das Netz dabei nicht beschädigt wird. Der Hund bleibt neben ihr stehen und schaut sie erwartungsvoll und mit aufmerksam gespitzten Ohren an. Er ist nicht mal groß genug, um sie zu beschützen. Er geht ihr gerade mal bis zum Knie. Nea stapft fest auf den Boden auf und versucht, den Hund mit den Händen und lauter Stimme zu verscheuchen. „Verschwinde!“ Dieser lässt die Ohren und seine Rute traurig hängen, rührt sich jedoch nicht von der Stelle und so läuft Nea einfach los.
Nach wenigen Metern dreht sie sich um und natürlich erblickt sie direkt den kleinen Hund, der zwar Abstand zu ihr hält, doch ihr eindeutig folgt. Sie hätte ihn eben doch töten sollen, das wäre das Beste für beide gewesen, doch dafür ist es nun zu spät. Er wird bei ihr nicht glücklich werden. Sie ist zu egoistisch, um sich um das Wohlergehen eines anderen zu scheren. Das wird der Hund auch noch merken. Je früher, desto besser. Am besten beachtet sie ihn also nicht mehr.
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