“Gut möglich”, schleimt Miguel.
Emma stopft sich ein Stück Käsekuchen in den Mund. Es würde locker für zwei Bissen reichen. Ein Bröckchen bleibt an ihren Lippen hängen und plumpst dann auf ihr schwarzes Kleid. “Oh nee!”, nuschelt sie zu sich selbst und beseitigt das kleine Malheur mit Fingern und Serviette. Ihr Blick wirkt genervt.
“Ohne Joe gäbe es weder meine Musik noch diesen Salon”, betont Anna.
“Böse Musen machen mich auch immer am Produktivsten”, kommentiert Emma die Aussage schnippisch. “Aus Leiden wachsen meine besten Ideen.”
“Ja, Emma schreibt ganz tolle Songs”, wirft Anna in den Raum.
“Der Song über Joe hat tatsächlich sehr viel Tiefe”, zieht Miguel weiter Schleimspuren.
Alexandra hält den Salmon kaum noch aus. Wenn Miguel und Anna vögeln wollen, sollen sie es gefälligst tun, aber bitte unter Ausschluss der Öffentlichkeit!
“Was für Musik machst du, Emma?”, versucht sie, die beiden von ihrer Balz abzulenken.
Alexandras Interesse bringt die blaugrünen Augen der Musikerin für eine Sekunde zum Leuchten. “Elektropop”, sagt sie.
“Ganz extravagante Sachen und sehr professionell”, reagiert Anna darauf mit Wohlwollen in der Stimme.
“Danke, Anna”, antwortet Emma hart, ohne die Gastgeberin anzuschauen.
“Bitte, Miguel, mach' Emma jetzt endlich ein nettes Kompliment!”, denkt Alexandra.
“Jetzt bin ich aber ganz neugierig, was wirklich hinter deiner Joe-Geschichte steckt”, sagt er.
Alexandra überkommt eine Lust, das Weite zu suchen. Sie wird eh nicht mehr lange bleiben. Auf ihrem Plan steht als nächstes die Ausstellung “Expressions of Love – Liebe in der Kunst” im Loophole in Neukölln.
“Ein einziges Erlebnis, das mich mein Vermögen gekostet hat. Dieser Joe war mein Geschäftspartner. Ich hatte ein Grundstück am östlichen Rand von Wedding ausfindig gemacht. Ein alter Schlachthof, der quasi danach schrie, mit Räumlichkeiten für Künstler und Kreative bebaut zu werden. Anstatt mit mir zu kooperieren, hat Joe lieber meine Ideen geklaut und der Stadt Berlin als seine eigenen untergejubelt. Das Startkapital kam natürlich auch von mir”, offenbart sich Anna. “Alles futsch und die anderen verdienen sich jetzt eine goldene Nase an dem Projekt!”
“Kannst du nicht dagegen klagen?”, fragt Alexandra.
“Keine Chance! Die hohen Herrn von der Stadt halten zusammen wie Pech und Schwefel. Ein gieriger, korrupter Haufen!”
“Und wie geht es jetzt weiter?”, will Alexandra wissen.
“Jetzt schreibe ich ein Buch über die Geschichte. Oder soll ich nicht gleich ein Musiktheater-Projekt mit dem Joe-Song als Leitmotiv produzieren? Was haltet ihr davon? Ich singe und spiele die Hauptrolle.”
Emma verdreht die Augen. Miguel gibt ihr Rückeinwind: “Ja, der Song hat Potential für weitaus mehr.”
Leidet der Mann an einem Ohrenproblem? Im Refrain ist Anna an sämtlichen Tönen vorbeigeschossen wie ein Läufer über die Ziellinie, doch keiner im Raum gibt ihr konstruktives Feedback.
“Das glaube ich langsam auch. Der Song ist ja längst ein SoundCloud-Hit”, freut sich die Hausherrin.
“Und erholen sich deine Geschäfte von der Pleite mit Joe?”, hakt eine Salon-Besucherin nach. Sie hat am Tisch links neben Alexandra Platz genommen und ist mindestens 60. Eine elegant gekleidete Dame mit Goldkette, dezenter Metallbrille und langem braunen Haar, das von ein paar grauen Strähnen durchzogen ist.
“Ich konzentriere mich jetzt auf Solaranlagen”, eröffnet Anna der Runde. “Marika ist übrigens Spezialistin für Photovoltaik. Wir wollen ein gemeinsames Projekt aufziehen.”
Anna weist mit einer stolzen Handgeste auf die geschäftlich wirkende Frau zu ihrer Rechten. Die beiden sind ungefähr im gleichen Alter. Marika hat schöne Haare. Sie fallen ihr lang und offen in den Nacken, goldblond schimmernd mit dichtem Pony. Marika trägt einen dunkelvioletten Anzug und Goldschmuck. Vielleicht ein Indiz für bombige Solaranlagen-Geschäfte.
“Ich freue mich sehr darauf, Anna”, sagt sie.
“Ja, wir Frauen sollten in Business-Angelegenheiten viel stärker zusammen halten. Du bist übrigens in deiner Nische eine echte Seltenheit.”
“Ist manchmal wirklich nicht so leicht, sich gegen die Kerle zu behaupten”, antwortet Marika resolut, “aber mit einem gesunden Willen und realistischen Zielen funktioniert alles.”
“Ich bin überzeugt, Anna, du machst deinen Weg. Entweder mit Solaranlagen oder als Künstlerin”, lässt Miguel wieder seinen männlichen Senf ab.
Alexandra fand Emma bei ihrer Ankunft in Annas Wohnung recht hübsch, vielleicht am Kinn ein bisschen kantig. Mit ihrer verfinsterten Miene sieht sie aus wie eine Karikatur ihrer selbst. Jetzt hätte sie in der Geisterbahn super Chancen, als Schreckgespenst den Erfolg ihres Lebens zu feiern. Ob ihr bewusst ist, dass man ihre Gedanken und Gefühle in ihrem Gesicht lesen kann wie in einem weit augeschlagenen Buch? Jetzt steht darin geschrieben, dass sie ungebändigte Lust verspürt, Anna und Miguel die Fresse zu polieren. Stattdessen verschlingt sie ein Stück Schokokirsch-Kuchen. Anna verkündet derweil: “Eine Wahrsagerin hat mir große Erfolge in etwas reiferem Alter prophezeit.”
“Bleib' einfach immer am Ball und denk' positiv”, ermutigt Miguel sie.
“Blablabla”, denkt Alexandra und dreht ihr Handy in der Hand wie eine chinesische Beruhigungskugel.
Emma schüttelt ihr dunkles Haupt, Anna reicht den Ball an Miguel zurück: “Darauf kannst du Gift nehmen. Übrigens hat mich deine Geschichte über Pia im Herzen berührt. Du schreibst mit so viel Tiefe und Sensibilität.”
Zwei blaue Augenpaare bombardieren sich mit Funken. Je länger sich Anna mit dem ach so hochsensiblen Autor unterhält, desto tiefer driftet sie zurück ins Teenager-Alter. Sie himmelt ihn an wie eine frisch verknallte 14-Jährige.
“Ich kenne übrigens alle Charaktere persönlich”, outet sich Miguel.
In Alexandra kribbelt es, ihn zu fragen, wo seine Freundin Pia steckt. Das will sie der Gastgeberin aber nicht antun.
“Wie kommst du eigentlich zu dem Vornamen Miguel?”
Innerlich muss Alexandra über Annas plötzlichen Themenwechsel lachen.
“Meine Mutter ist Argentinierin. Die ersten elf Jahre meines Lebens habe ich in Buenos Aires verbracht.”
“Und sprichst sicher perfekt Spanisch”, ergänzt Anna.
“Si, Señorita! Ich lebe in Berlin und Barcelona.”
Emma greift ruckartig zur Prosecco-Flasche und füllt ihr Glas mit so viel Schwung, dass es überläuft.
“Fuck it!”, flucht sie.
“Aber das macht doch nichts! Ich hole einen Lappen und wir wischen es weg”, erwidert Anna. Sie steht auf und flitzt in die Küche.
Jukka hat die ganze Zeit ohne Gefühlsregung zugehört. Auch die Prosecco-Pfütze auf dem Tisch lässt ihn kalt. Marika mustert Emma missbilligend und Alexandra kommentiert das Malheur: “Na dann. Verschütteten Schnaps trinkt keiner mehr.”
Emma starrt sie an: “Schnaps? Du meintest wohl Prosecco!”
“Ja, natürlich Prosecco. Das war eine Zeile aus einem meiner Gedichte”, erklärt Alexandra ihren spontanen Einwurf.
“Ach so”, antwortet Emma kaum hörbar.
“Schreibst du auch?”
Zum ersten Mal spricht Miguel mit ihr.
“Ja, ich arbeite an meinem ersten Roman.”
“Und wovon handelt der?”, bohrt Miguel weiter.
“Von einer Nacht in Berlin. Mehr verrate ich nicht”, gibt Alexandra preis. Keiner der Salonbesucher weiß, wie eng sie bereits mit der Geschichte verknüpft sind. Anna kommt zügigen Schrittes aus der Küche zurück. In ihrer rechten Hand hält sie einen rosa Wischlappen. Ihr verliebtes Lächeln und Emmas Ärgerfresse könnte man kunstvoll auf einem Foto in Szene setzen.
“Ist alles ok mit dir, Emma?”, erkundigt sich Anna, während sie ihren Massivholztisch von den Prosecco-Spuren befreit.
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