„Na, denn!“
Die U-Bahn vibrierte beim Bremsen vor der Station. Noch zwei Stopps, dann wäre er zu Hause.
Thorsten und Schütti würde er an diesem Abend ganz sicher nicht treffen. Keine Lust auf die Loser. Dass er ihnen versehentlich sein Versteck ausgeplaudert hatte, ärgerte ihn maßlos. Wie besoffen musste er gewesen sein, als er das ausgeplaudert hatte.
Zum Glück hatte er vor ein paar Monaten zum ersten Mal einen kleinen Nebenverdienst auf der Berlinale ergattert. Für die Dauer des Filmfestivals. Davon zehrte er immer noch. Es ging also aufwärts. Vielleicht folgte dort im neuen Jahr ein noch besserer Job.
Die Filmpartys, die er während der Berlinale mitgekriegt hatte, fand er legendär. Je länger sie zurück lagen, desto legendärer wurden sie in seinen Erinnerungen.
Das kollektive Besäufnis des britischen Filmverbands zum Beispiel, im schicken Literaturhaus in der Fasanenstraße. Für Sandor ein einmalig tiefer Einblick in sein zukünftiges Leben als Drehbuchautor. Fulminant saufen und halbnackt auf den Tischen tanzen! Das hatte ihm schon sehr zugesagt.
Oder das kalte Fisch Buffet bei den nicht minder trinkfesten Skandinaviern, in der Botschaft der skandinavischen Länder am Tiergarten! Solche unvergesslichen Erlebnisse würden ja bald regelmäßige Highlights seines gewohnten Alltags sein. In diesen Momenten empfand er sich der Medienindustrie und ihren Vorzügen längst zugehörig. Er war ja einer von ihnen, mittendrin!
„Are you a director?“
„No, sorry, I´m not!”
Sandor hatte die auf Jobsuche umher streunenden Schauspieler gehasst. Sie plusterten sich immer fürchterlich auf. Wollten von allen Seiten Beifall. In seinem neuen Partyrevier. Aufgrund seiner rötlichen Haare hielten sie ihn wohl für einen irischen Regisseur, dessen unscharfes Foto im Festivalkatalog abgebildet worden war.
„Ich bin aus Berlin.“
„Welcher Bezirk?“
„Rixdorf.“
Nach diesen Biodaten ließ das Interesse normalerweise schnell nach. Am liebsten hätte er sich ein Schild umgehängt, mit der Aufschrift: „Seid ihr blind? Ich suche auch!“
Gelegentlich versuchten einige männliche Filmbonzen ihrem libidinösem Glück mit ihm im Pool der Cineasten nachzuhelfen. Gaben sich als bedeutende Regisseure aus. Um mal einen Eingeborenen in ihr Hotelbett zu kriegen. Einen Hetero verführen, das war für sie der geilste Kick.
Sandor brauchte an diesem Abend eine halbe Flasche Wein, um halb getröstet einzuschlafen.
Am folgenden Tag saß er wieder in der U7 auf dem Weg zum Copyshop an den Yorckbrücken, wo er sich sicher mit defekten Kopiergeräten herum ärgern würde.
Seinem Chef gehörte ebenfalls die Bar mit dem Namen „Wirtschaftswunder“, ganz in der Nähe, Yorckstraße. Aber trotzdem war er zu geizig, um neue Kopiergeräte anzuschaffen.
An fast jeder U-Bahn Station der U7 stiegen urlaubsgebräunte Fahrgäste ein, deren rötlicher Teint von Mallorca, Teneriffa, Antalya oder den Kapverdischen Inseln stammte. Glückliche Flüchtlinge, die sich eine Auszeit vom Stress in der Stadt erkauft hatten.
Von seiner lausigen Bezahlung blieb nichts für Urlaub.
Um die im Bahnabteil ihm gegenüber sitzenden Urlaubsgesichter nicht länger ertragen zu müssen, spannte er eine auf der Sitzbank vergessene BZ auf. Die Artikel des Boulevardblatts überflog er mit schnellen Blicken. Nur an den BZ Girls blieb sein Blick ein paar Sekunden lang haften.
Urlaubsschönheiten, halbnackt am Strand!
Als Fatma zum ersten Mal im LKA Präsidium erschien, kicherten die Polizeikollegen hinter vorgehaltener Hand. Ein junger Beamter führte sie durch die Büroetage.
„Junges Frollein! Lüften Sie als erstes in ihrem Büro! Ihr Vorgänger hat das Fenster nicht aufgekriegt.“
Ein älterer Beamter mit Backenbart hatte den Satz ungeniert quer durch das Büro gebrüllt.
„Da lang!“
Der junge Kollege war unter seinen glucksenden Lachlauten rot angelaufen. Niemals zuvor in ihrer jungen Karriere hatte Fatma eine komplette Einheit ehrwürdiger Polizeibeamte dermaßen kichernd erlebt. Was für ein seltsamer Einstand!
Als Frau mit dem familiären Hintergrund von türkischen Einwanderern hatte sie sich um die öffentlich ausgeschriebene Kommissarstelle im Landeskriminalamt am Tempelhofer Damm beworben. Nur so zum Spaß, an einem verregneten Sonntagnachmittag!
Sie war überrascht, als sie die Stelle dann tatsächlich bekam.
„Da ist es!“
Er zeigte auf die Tür zu Fatmas neuem Büro. Die allgemeine Heiterkeit ebbte immer noch nicht ab. Zum Glück hatte das Büro eine Tür.
„Kicherwasser getrunken?“
Es fiel ihr schwer, ihr Verhalten nicht auf sich zu beziehen. Da vernahm sie ein sonores Brummen, eine Melodie. Auf einmal brüllte ein Chor von Polizeibeamten lauthals den Rest eines bis dahin nur zu ahnenden Refrains:
„… Stinki, das Tier!“
Einen Moment später war es atemlos still. Sie hörte nur noch das Umblättern von Papierseiten auf den Schreibtischen. Fatma meinte sogar, in den Gesichtern einiger Beamte eine entsetzte Betroffenheit über das eigene Verhalten entdeckt zu haben, aber dann stand ein junger Mann mit Igelschnitt und Pickel am Kinn von seinem Schreibtisch auf, kam auf sie zu und schüttelte ihr die Hand.
„Lummer. Wie Heinrich Lummer hat ihr Vorgänger ausgesehen.“
Das verwirrte sie allerdings noch mehr. Der andere junge Kollege nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz.
„Früher Innenminister von West Berlin. Alter Kauz.“
Fatma wusste nun, wer dieser Heinrich Lummer war. Welche Rolle er in Berlin gespielt hatte.
„War auch vor meiner Zeit. Aber die Kollegen machen sich gern noch lustig über ihn. Nicht über Sie. Verstehen Sie das nicht falsch.“
Seinem Gesicht war nicht zu entnehmen, ob er meinte, was er sagte.
„Karl Kaiser.“
„Fatima Dogan. Alle nennen mich Fatma.“
Er öffnete die Tür zu ihrem Büro und stieg sofort auf einen Stuhl, um das knapp unter der Zimmerdecke liegende Butzenfenster zum Innenhof zu öffnen.
„Ältere Herren duften ja nicht immer nach Rosenwasser. Ein paar Wochen lang lüften, dann ist der Duft raus!“
Er wünschte ihr noch ein dickes Fell für den Job und toi, toi, toi, viele Verhaftungen. Dann ließ er sie allein.
„Lustige Truppe hier!“
Ihr Büro sah aus wie eine Gefängniszelle. Hier brauchte sie wirklich ein dickes Fell, so viel war Fatma nach den ersten Minuten schon klar.
Vor drei Jahren noch auf der Polizeiakademie, dann erfolgreich beim Berliner Drogendezernat als verdeckte Ermittlerin, und jetzt dieser Karrieresprung. Kommissarin in der Abteilung OK, organisierte Kriminalität. Wahrscheinlich war sie im Landeskriminalamt die jüngste Ermittlerin aller Zeiten.
Sicherlich eine Seltenheit in dieser biederen Polizeibehörde. Fatma untersuchte ihren neuen Schreibtisch. Als sie die Schubladen aufzog, kroch noch mehr muffiger Geruch hervor.
„Nicht zum Aushalten, puh!“
Hier hatte jemand jahrelang ein Schweißproblem ausgesessen. Ihr Vorgänger wohl, etwa über unlösbaren Fällen?
Zum Glück ahnte keiner der neuen Kollegen, wie sie ihre Fälle gelöst hatte. Sie wäre gewiss nicht so schnell die Karriereleiter hinaufgeklettert, hätte der Personalchef bei seiner Entscheidung gewusst, wie viel sie dabei ihrem älteren Bruder Mehmet verdankte.
Egal, der neue Arbeitsvertrag lag hübsch unterschrieben zu Hause, die Tinte darauf noch fast flüssig.
Von ihrem bald ansehnlichen Gehalt wollte sie in ein paar Jahren in der Türkei ein verfallendes Landgut in den Ausläufern des Taurus Gebirges erwerben. Mit Hilfe des Wertunterschieds zwischen Lira und Euro wäre es günstig wiederherzustellen, um irgendwann vielleicht eine Bienenfarm daraus zu machen.
Beziehungsweise von Mehmet aufbauen zu lassen, denn sie war ja beruflich fest in Berlin. Ihr Leben insgesamt brauchte den inneren Ausgleich. Und dafür eignete sich besonders diese ferne, sonnige Perspektive!
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