Klavans Gedanken wurden durch einen überraschten Ausruf Tanelors unterbrochen: «Herr, Ihr seid es, ein Wunder, Ihr habt doch überlebt. Möge Euer Innerer Atem tief sein!»
Rasch fiel Tanelor auf die Knie, was aufgrund seiner bis auf das kleine Bäuchlein schlanken Figur recht schlaksig aussah, und sah Klavan müde und froh in die Augen.
«Steht bitte auf, mein Herr», entgegnete Klavan, den eine solche Aufmerksamkeit sichtlich verlegen machte. «Hier muss ein Missverständnis vorliegen.»
Tanelor blickte ihn verwirrt an und erhob sich umständlich.
Da brach es aus Klavan heraus. Das alles war zu viel für ihn gewesen. Und alles an einem Tag. Er fiel seinerseits auf die Knie und flehte den überraschten Fremden an: «Bitte helft mir, Tanelor, oder wie auch immer Ihr heißen möget! Bitte, bitte helft mir!» Und dann sprudelte die ganze Geschichte aus ihm heraus: die Schlucht, die Versetzung in eine fremde Welt, die Drachenhöhle mit dem garstigen Kapuzenmann, seine Flucht, die fremde Stadt, der herrliche Gesang der bedauernswerten Laleia, Gaster, die Priesterin, der Kaiser, und jetzt das hier. Nur die Sache mit dem unverschämten Ring ließ er aus, biss sich noch rechtzeitig auf die Lippen. Tanelor hörte ihm mit wachsendem Entsetzen, das sich in seinem Gesicht malte, zu, unterbrach ihn aber nicht, ließ ihn einfach ausreden. Und Klavan machte reichlich davon Gebrauch. Das tat richtig gut. Nach und nach wurde er wieder ruhiger, fühlte sich zwar erschöpft, aber innerlich ausgeglichener.
«Um der Allmutter willen!», meinte Tanelor dann. «Es tut mir so leid, mein Prinz.»
«Ich bin doch nicht Euer Prinz. Habt Ihr mir denn gar nicht zugehört?»
«Doch, natürlich. Das habe ich», entgegnete Tanelor, und eine Woge von Bedauern schwang in seiner Stimme mit. Sein Mundwinkel fing wieder an zu zucken. «Ich habe verstanden, was Ihr denkt, was Ihr wärt. Kein Prinz, sondern aus einer anderen Welt. Durch ein Missgeschick hierher versetzt.»
«Genau», meinte Klavan und schöpfte etwas Hoffnung.
«Ich nehme an, Ihr könnt Euch auch nicht an Eure Zeit als Prinz erinnern?»
«Natürlich nicht! Ich war doch nie Prinz!»
«Doch, das wart und das seid Ihr!» Unendliches Mitgefühl lag diesmal in seiner Stimme. «Ihr seid Klavan, der silberne Prinz. Einer der sieben. Etwas hat Eure Erinnerungen verfälscht. Das Einzige, was wahrscheinlich stimmt, ist, dass Gaster Euch gefunden und hierher gebracht hat. Mir und Loron ist es ebenso ergangen.»
«Der Hochritter hat auch Euch hierhin gebracht?»
«Ja. Wenn der Kaiser etwas Besonderes will, dann schickt er meistens Gaster aus. Der verbohrte Kerl ist derart gut mit dem Schwert, dass Widerstand zwecklos ist. Auch Loron hatte keine Chance gegen ihn, obwohl er bei seiner Festnahme», Tanelor rümpfte die Nase, «wie ein Berserker um sich geschlagen haben soll und Gaster sogar ein blaues Auge verpasst hat.»
Bei dem Gedanken an Gasters geschwollenes Auge musste Klavan unwillkürlich lächeln. Diesen Loron wollte er mal kennenlernen, der war ihm jetzt schon sympathisch.
Doch Tanelor fuhr fort: «Mein Prinz, bevor wir getrennt wurden, kämpften wir in einer Schlacht, gegen eine große Übermacht von Feinden. Bei unseren Feinden war auch ein sehr mächtiger Magier, viel mächtiger als ich selbst. Ich habe seinen Namen nicht herausbekommen, er wurde lediglich ‹Der Dunkle› genannt. Dieser Dunkle kämpfte auf eine unfaire Art, er griff die geistige Integrität, die Persönlichkeit eines Menschen selber an. Wahrscheinlich hat er Euch geschadet, hat Euch den Zugang zu Euch selbst versperrt. Dazu kommt, dass Ihr mehrere Schläge auf den Kopf erhalten habt. Glaubt mir, Ihr seid nicht mehr Ihr selbst, Ihr seid verwirrt.»
«Aber ich kann mich doch noch sehr gut an meine Vergangenheit erinnern», unterbrach ihn Klavan.
«Ja, eine Vergangenheit aus einer anderen Welt», meinte Tanelor traurig. «Glaubt mir. Ich bin ein Magier, zumindest ein Magier gewesen. Ich sollte es wirklich wissen. Es gibt keine anderen Welten, das ist Unfug. Aber es gibt Träume. Seht es einfach als einen Traum an. Jetzt seid Ihr wieder wach. Diese dumme Phantasie mit dem Drachen ist nur ein Erklärungsversuch Eures Verstandes. Ich habe schon von solchen Fällen gehört. Seht, Ihr tragt auch das Zeichen des silbernen Prinzen auf der Hand. Das magische Bestimmungsmal lässt sich nicht so einfach kopieren, das kann nur der Kaiser selbst!»
Tanelor deutete auf die silberne Krone auf Klavans linkem Handrücken, diese merkwürdige Tätowierung, die sich nach der Heilung durch die Priesterin Nanala gezeigt hatte.
Klar, da war eine silberne Krone. Aber ein Traum? Sollte er seine ganze Vergangenheit als Traum ansehen? Einen Moment lang zweifelte Klavan. War das wahr? Aber dann kam ihm ein Gedanke. Er griff mit der rechten Hand in seine Hosentasche. Ja, da fühlte er den Gegenbeweis!
«Unglaublich, werter Herr, einfach unglaublich. Wie konntet Ihr mich nur ausziehen? Mich, den wertvollsten Ring, der je geschaffen wurde. Mich, den ‹ Einen Ring › . Unerhört!», hörte Klavan sofort die Stimme des unverschämten Rings in seinem Kopf schimpfen. « Bestimmt habt Ihr uns bis über beide Ohren in Schwierigkeiten gebracht, Ihr kennt diese Welt doch gar nicht. Aber großzügig, wie ich bin, werde ich ...»
Rasch zog Klavan die Hand wieder aus der Tasche, ließ den Ring aber dort, wo er war. Diesmal hatte er darauf geachtet und hatte es deutlich gemerkt: Sofort, als er den Ring angezogen hatte, hatte er einen geringen Druck im Kopf gespürt, der jetzt wieder weg war. Mit dem Ring würde er sich später beschäftigen.
Also doch kein Traum. Seine Erinnerung war wahr. Wenn es den unverschämten Ring gab, dann auch die Drachenhöhle und den ganzen Rest. Wenn also etwas ein Traum war, dann höchstens diese ganze Welt. Aber einen so langen und zusammenhängenden Traum hatte Klavan noch nie erlebt. Es blieb dabei: Am wahrscheinlichsten war, dass er wohl wirklich in eine andere Welt versetzt worden war.
Aber er hatte nicht den Eindruck, dass selbst der Ring Tanelor von seiner Meinung abbringen könnte. Zu überzeugt hatte Tanelor gesprochen. Vielleicht war es besser, wenn er erst einmal so tat, als ob er zustimmte.
«Nur mal angenommen, ich würde Euch glauben», begann Klavan vorsichtig. «In was für einer Situation befinde ich mich dann im Augenblick? Bitte helft mir. Tut einfach so, als wüsste ich nichts, als ob diese ganze Welt komplett fremd für mich wäre.»
«Das wird schwierig, aber ich werde es versuchen», antwortete Tanelor verzagt und wandte sich zur Treppe. «Lasst uns aber erst nach oben gehen, hier wird es mir langsam ungemütlich.»
Im ersten Stockwerk gab es mehrere Türen. Aus einer davon kam ein lautes Schnarrchen, und Tanelor warf einen kurzen, strafenden Blick auf die Tür, um Klavan dann weiter nach oben zu führen. Klavan schwieg und folgte ihm in das zweite Stockwerk des Turms, in dem sich der Magier offensichtlich eingerichtet hatte. Es sah aus wie in einer Schreibstube. Regale mit Büchern bedeckten die Wände, und es gab ein schlichtes Bett und einen Schreibtisch. Tanelor ging zu einer Truhe und nahm von dort mehrere Getränke sowie Brot und ein Stück Käse mit. Das nächste Stockwerk entpuppte sich als leer und offensichtlich unbewohnt. Das vierte und oberste Stockwerk schließlich war vornehm eingerichtet. Neben einer Sitzecke mit Tisch und Stühlen befanden sich hier noch ein Himmelbett sowie einige mit Schnitzereien versehene Schränke und Truhen. Von den Fenstern hatte man nach allen Seiten einen guten Ausblick auf das Schloss und den umliegenden Park, und an den Wänden hingen einige Bilder in schwungvollen Rahmen.
«Hier lässt sich bestimmt gut speisen», meinte Klavan unwillkürlich.
«Ihr hattet schließlich schon immer einen guten Geschmack, mein Prinz», erwiderte Tanelor.
Читать дальше