2. Kapitel
Das Klingeln von Nadines Handy riss sie aus ihren Träumen. Noch im Halbschlaf stieg sie auf, lief ins Wohnzimmer, um ihr Handy aus der Handtasche zu kramen und wunderte sich, warum es draußen schon so hell war.
„Ja?“ Sofort meldete sich Tanjas Stimme vom anderen Ende der Leitung. „Nadine, wo bleibst du denn? Es ist schon 10 Uhr und der Lieferant mit den bestellten Schleiern ist schon da! Bist du etwa krank?“ Nadine schaute auf die Uhr, die an der Wand über dem Fernseher hing, erschrak und legte ohne jegliche Antwort auf Tanjas Frage einfach auf, um sofort ins Bad zu rennen. Auf halbem Weg drehte sie um, schnappte sich ihr Handy, rief Tanja an und sagte ihr, dass sie unterwegs sei und Tanja versuchen sollte, den Lieferanten aufzuhalten. Nadine musste die Ware überprüfen, bevor sie sie annehmen konnte. Solange dies nicht geschah, konnte der Lieferant nicht weiterfahren.
So schnell sie konnte, machte Nadine sich frisch, zog sich an, schnappte sich ausnahmsweise ihr Auto (die nächste Bahn würde 15 Minuten auf sich warten lassen) und stellte 10 Minuten später ihr Auto auf dem Parkstreifen vor dem Brautmodenladen ab. Nadine nahm die verärgerte Miene von Tanja und die noch mehr verärgerte Miene des Lieferanten wahr. Sie entschuldigte sich für die Verspätung, schaute grob nach, ob die Schleier alle in Ordnung waren und mit der Bestellung übereinstimmten, setzte ihre Unterschrift unter den Lieferschein und atmete tief durch, während der Lieferant zur Tür hinausging.
„Ich dachte, du warst gestern nur bei deinem Bruder zum Essen eingeladen. Du siehst allerdings aus, als hättest du die halbe Nacht durchgefeiert. Ist etwas passiert?“ Nadine bemühte sich immer noch, richtig wach zu werden und steuerte den direkten Weg zur Kaffeemaschine an. „Nein, es ist nichts passiert. Jedenfalls nix Weltbewegendes.“ Schweigen füllte die nächsten 2 Minuten. „Ja, und? Erzähl schon. Du bist doch sonst auch nicht so fertig nach dem Essen bei deinem Bruder.“ Nadine dachte an Sabines Schwangerschaft und an Raphael. „Nun ja, ich werde Tante. Meine Schwägerin Sabine bekommt im November ein Baby.“ „Wow, das sind ja tolle Neuigkeiten! Gratuliere! Weiß man denn schon, was es wird?“
Nadine hatte Tanja schon viel von ihrer Schwägerin erzählt und als Sabine vor 2 Jahren nach einem Hochzeitskleid suchte, hatten sich Nadine und Tanja um den Traum aus weißer Seide gekümmert. „Nein, das wird eventuell die nächste Ultraschall-Untersuchung zeigen.“ Erneut machte sich Wehmut bei Nadine breit. Sie versuchte jedoch, sich nun auf die Schleier zu konzentrieren. Dabei fiel ihr ein, dass sie nach der Arbeit direkt nach Hause wollte, um ein geeignetes Hotelzimmer für ihren Frankreich-Urlaub zu suchen.
„Übrigens, ich weiß nun, wo ich meinen Urlaub im August verbringen werde.“ Tanja wurde hellhörig und fragte gleich nach: „So? Wo geht’s denn dieses Jahr hin?“ „Nach Frankreich.“ Tanja wusste nicht, ob sie sich wundern oder lachen sollte. „Wirklich? Das ist ja toll. Du wirst sehen, Frankreich ist wundervoll. Es gibt so viel zu sehen.“ Während Tanja weiter drauflos plapperte, versank Nadine wieder in Gedanken an den gestrigen Abend und an Raphael. Raphael schien doch ein interessanter Mann zu sein. Er war gutaussehend, er war Franzose und er war sehr nett. Noch immer hatte sie den intensiven süßen Geschmack der Schokolade im Mund, der sie unvermittelt lächeln ließ. „Warum grinst du denn so?“
Tanja ahnte, dass Nadines Lächeln nicht nur mit dem Nachwuchs ihres Bruders zusammenhängen konnte. „Na gut, du hast mich erwischt. Beim Abendessen gestern hat Kai mir einen alten Freund vorgestellt. Er heißt Raphael, ist 32 Jahre alt und sehr nett. Er ist Franzose und hat hier in der Nähe einen kleinen Laden mit französischen Spezialitäten. Ich finde ihn sehr sympathisch. Wir haben uns gut unterhalten.“ „So, nur unterhalten, ja?“ Tanja musste grinsen. Nadine konnte sich vorstellen, welche Gedanken nun wohl im Kopf ihrer Kollegin rumschwirren mussten. „Ja, nur unterhalten. Er hatte zum Nachtisch leckere Schokolade mitgebracht. Ich werde demnächst mal in seinen Laden gehen und mir ein wenig von der Schokolade besorgen. Du weißt ja, dass ich eine große Schwäche für Schokolade habe.“ Trotzdem hatte Nadine eine bewundernswerte Figur, auf die Tanja schon immer ein wenig neidisch gewesen war. „Du kannst es ja vertragen, du bist und bleibst schlank. Ich nehme alleine vom Anschauen 2 Kilo zu.“ Nadine wusste, woher sie die schlanke Figur hatte. „Bei mir liegt das wohl an der Veranlagung. Mein Vater war ja immer sehr schmal.“
Nadines Vater starb vor einem Jahr an Krebs. Es ging damals alles ziemlich schnell. Er starb noch bevor sich irgendjemand mit der schlimmen Krankheit abfinden konnte.
Eine Kundin betrat den Laden, so hatte Nadine nun wenigstens ein bisschen Ablenkung, indem sie sich den Wünschen und Vorstellungen der jungen Dame widmete.
„So, der Feierabend ruft. Was hast du heute Abend noch vor?“ Nadine erzählte Tanja von ihrer Hotelsuche. Tanja nannte ihr einige Namen der Hotels, in denen sie selbst die Nächte in Frankreich verbrachte. Nadine war dankbar für die Ratschläge, verabschiedete sich und lief zum Auto. Bei dem Gedanken an die Hotelsuche und an Frankreich fiel ihr die Schokolade wieder ein. Nachdem der Tag für sie so stressig angefangen hatte, wollte sie wenigstens den Abend gemütlich zu Hause ausklingen lassen. Da war Schokolade das Richtige Mittel dafür. Aber sollte sie wirklich heute schon den französischen Laden betreten? War es nicht zu offensichtlich oder gar aufdringlich, wenn sie Raphael nun schon wieder traf, nachdem sie sich keine 24 Stunden zuvor verabschiedet hatten? So hin und her gerissen kannte sich Nadine gar nicht. Da der Wunsch nach Schokolade doch ziemlich stark war, entschied sie sich, zu dem Laden zu laufen. Ein wenig aufgeregt war sie schon. Jedoch rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie lediglich Schokolade kaufen wollte.
Nadine stieß die Tür auf und trat ein. Der Laden war nicht sonderlich groß und bot doch eine größere Auswahl an Käsesorten, Wein und natürlich Schokolade. Wie sie sehen konnte, war die Schokolade in einem speziellen Kühlschrank gelagert. Außer ihr war niemand da. Bis auf Raphael. Kaum hatte er sie gesehen, schenkte er ihr sein schönstes Lächeln und begrüßte sie mit einem leichten Händedruck, der ihr sofort ein Kribbeln in die Magengegend verschaffte. Sie befahl sich innerlich, sich zu zügeln und lächelte ihn ebenfalls an.
„Sie kommen sicher, um sich die Schokolade zu holen, die ich Ihnen, wie versprochen, zurückgelegt habe.“ Die Art, wie er mit ihr sprach, ließ sie wie auf Wolken schweben. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das zum letzten Mal gespürt hatte. Wenn überhaupt, musste es schon sehr lange her gewesen sein.
„Ja, genau. Mein Tag heute hat ziemlich stressig angefangen, da brauche ich ein wenig Nervennahrung.“ Raphael nickte leicht. „Das kann ich gut verstehen. Auch ich habe ab und zu solche Momente in denen ich denke, nun gönne ich mir etwas Schönes. Warum hat ihr Tag denn so stressig angefangen?“ Nadine fühlte sich auf seltsame Weise ertappt. Sie konnte ihm doch schlecht sagen, dass sie vor lauter Träumen vergessen hatte, sich den Wecker zu stellen und somit verschlafen hatte. „Ach, wir hatten Probleme mit einem unserer Lieferanten.“ Sie fühlte sich recht unwohl, Raphael anlügen zu müssen. Aber Nadine fiel nichts Besseres ein. Und so ganz ungelogen war das ja auch nicht. Immerhin war der Lieferant verärgert gewesen.
„Solche Tage gibt es öfter mal. Ich hole die meisten meiner Waren selbst in Frankreich ab, das erspart mir Ärger mit den Lieferanten. Aber keine Sorge, mein Tag heute hat auch nicht besser angefangen. Ich habe nämlich verschlafen. Aus irgendeinem Grund habe ich gestern Abend nicht mehr daran gedacht, mir den Wecker zu stellen.“ Nadine traute ihren Ohren kaum. Ihm war das Gleiche passiert, wie ihr. Mit dem Unterschied, dass Raphael ehrlich zu ihr gewesen war. Nadine hingegen hatte ihm verschwiegen, wie ihr Tag wirklich begonnen hatte. Da es ihr recht unsinnig und auch irgendwie kindisch vorkam, ihm im Nachhinein doch die ganze Wahrheit zu sagen, verschwieg sie ihm die Gemeinsamkeit und fragte sich still, ob das ein Wink des Schicksals oder einfach nur Zufall war. Jeder kann doch mal verschlafen, oder nicht?
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