Hans überwand aus einem Impuls heraus seine Hemmungen weiblichem Geschlechts gegenüber, gab seinen ziemlich gut geschützten Platz hinter der Kommandobrücke auf, der sofort von einem anderen Fahrgast wieder besetzt wurde, und ging zu ihr und der Rettungsmittelkiste, auf der sie allein sass. Von dem Spritzwasser, das die Rüm Hart mit jedem Eintauchen hoch schaufelte, war hier nichts mehr zu spüren. Die Tropfen flogen an diesem Platz vorbei.
„Ist hier noch der Platz frei?“ fragte er, seine Schüchternheit überwindend. Er war es einfach nicht gewohnt, er konnte nicht anders!
„Freili!“ kam als Antwort, und das weibliche Wesen rückte sogar ein wenig zur Seite, obwohl auch ohne dem genug Platz gewesen wäre auf der etwa 2,5 m langen Kiste für Rettungsmittel. Wollte Sie damit vermeiden, dass er sich zu nahe an sie heran setzte? Möglicherweise, denn sie kannte den jungen Mann ja nicht, der sie höflich gefragt hatte, statt sich einfach neben sie zu setzen. Deshalb konnte sie auch nicht wissen, dass er sich auch mit einem Platz an einer Seite der Kiste begnügt hätte, um ihr nicht zu nahe zu kommen.
Aus Norddeutschland kam sie schon einmal nicht! Dort wurde dass Wort „freilich“ im Sprachgebrauch nicht benutzt. Also Süddeutschland! Bayern? Hans hatte Zweifel. Aber so gut kannte er sich nicht aus, vor allem nicht mit Sprachgewohnheiten in den unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Um mehr heraus zu finden, musste er sie in ein Gespräch verwickeln. Aber wie? Er wusste es nicht!
Sie hatte die Mitte eingenommen, und davon gab sie nun ein Stück frei. Sie blickte ihn an und fand wohl, dass er sie nicht mit Anzüglichkeiten belästigen würde. Eher sah der junge Mann, der sich neben sie setzen wollte, ein wenig schüchtern aus. Sie wusste noch nichts mit ihm anzufangen. Aber das musste ja nichts bedeuten. Er hatte sie höflich gefragt, ob er sich neben sie setzen dürfe, und sie hatte das nicht abgelehnt. Obwohl reichlich Platz auf der Kiste war, fragte sie sich, was er wohl gemacht hätte, wenn sie nein gesagt hätte. Hätte er sich wieder zurück gezogen? Oder hätte er nachgefragt, warum der freie Platz vielleicht nicht frei sein sollte? Claudia ahnte es nicht!
Er sah sie auch kurz an. Ein Mädchen war sie nicht mehr, eine reife Frau aber auch nicht. Sie musste etwa so alt sein wie er, vielleicht auch noch in der Ausbildung? Für einen weiblichen Lehrling war sie zu alt! Frau hatte ausgelernt mit 18 oder 19 Jahren. Die neben ihm sah aber aus, als sei sie 20 Jahre oder älter, nicht viel, aber immerhin. Sein kurzer schüchterner Blick hatte ihm aber für die Feststellung gereicht, sie schön zu finden - was ihn noch schüchterner machte. Sie hatte ein schmales Gesicht, was durch eine relativ hohe Stirn betont wurde, eine gerade Nase, einen sinnlich scheinenden Mund. Ihre Haare waren von der hochgeschlagenen Kapuze ihres Anoraks bedeckt, aber der Haaransatz schien blond zu sein. Ihre Augen waren blau, soweit er es auf den ersten Blick erkennen konnte.
Hans setzte sich neben sie, ohne allerdings auf Tuchfühlung zu gehen. Sie nahm es zur Kenntnis, rückte aber auch nicht weiter von ihm ab. Ihre Füsse stützten sich nach wie vor auf der zweiten Relingssprosse ab. Sie hatte die Beine leicht angewinkelt, und als Hans auch seine Füsse auf die gleiche Relingssprosse stellte, sah er, dass auch er die Beine anwinkelte, aber nicht viel weiter als die Frau neben ihm. Klein war sie also nicht! Er sah sie noch einmal an, und bemerkte, dass ihr Gesicht leicht oval war, was aber auch nicht stimmte, die Kiefer waren ausgeprägt und die Wangenknochen darüber auch. Das machte ihr Gesicht eher kantig, aber auch nur angedeutet, interessant und sportlich.
Er blickte in ein freundliches offenes Gesicht. Das weibliche Wesen lächelte ihn an, aber das wirkte nicht auffordernd auf ihn sondern nur freundlich. Ihr Gesicht war hell und offen. In diese Frau könnte ich mich verlieben! dachte er sofort. Schon ihr Gesicht gefiel ihm. Sonst war alles sehr wohl verpackt, sie trug eine blaue Windjacke, die sie bis oben hin zugezogen hatte und Bluejeans, die so grosszügig geschnitten waren, dass sie nicht eng anlagen. Schade!
„Sie haben gar keine Probleme mit Seekrankheit?“ fragte er, um dann doch zu einem Gespräch mit ihr zu kommen.
„Nein, ich find´s grossartig, dass es hier so waggelt,“ war die Antwort. Schwäbisch?
„Und wenn es mehr würde?“ fragte Hans nach.
„Des könnt´ mich scho intressiere, aber heut ischt es halt äbbe so!“ bekam er zur Antwort. Schwäbisch, was sonst? Obwohl er sich nicht auskannte mit den Dialekten der deutschen Sprache.
Er kannte von seinen Eltern und Grosseltern nur Plattdeutsch, ein Niederdeutsch in einem Dialekt, wie es im Raum nordwestlich von Hamburg gesprochen wurde, wo er ja auch aufgewachsen war. Und wenn er redete, kam es so norddeutsch, dass man seine Herkunft sofort erkannte: Hamburg, oder Hamburger Umfeld.
Die Rüm Hart hatte bald das Helgoländer Loch erreicht, einen Seebereich in der Nähe von Helgoland, in dem sich immer ein hoher Wellengang bildete, der selbst bei diesem guten Wetter auch die grossen Schiffe wie die Wappen von Hamburg oder die Roland von Bremen deutlich zum Schaukeln brachte.
Die Rüm Hart erkletterte die Wogen in diesem Seebereich nahezu, um anschliessend in ein tiefes Tal zu fallen, so dass die nächste Woge das Vorschiff vollkommen überflutete. Dann hob es sich wieder ruckartig durch den hohen Auftrieb des Vorschiffs, liess Salzwasser quasi in der Luft stehen, senkte die Nase wieder in das nächste Wellental, und das hochgepeitschte Wasser trieb in einer einzigen grossen Wolke über das Schiff hinweg. Die Bewegungen waren alles andere als regelmässig, sie waren mal sanft und weich, dann wieder, als führe das Schiff gegen ein nachgebende Wand, und mit jedem Senken des Bugs in die nächste Welle flog die Gischt über das Schiff hinweg.
Hans blickte zu seiner Nachbarin, ob sich bei der vielleicht doch langsam Seekrankheit einstellte, aber die schien es zu geniessen wie er selbst auch! Bis dahin hatte er nicht gewusst, ob er seefest war, denn so oft war noch nicht mit einem Schiff gefahren, und nach Helgoland noch nie! Das war etwas ganz anderes als auf der Unterelbe, auch anders als auf der Ostsee, wo er schon einmal eine Segelfahrt mitgemacht hatte.
„Darf ich Sie schützen?“ fragte Hans.
„Nicht erforderlich!“ bekam er als Antwort, „Isch habe misch vor der Fahrt ausreichend informiert und gut vorgesorgt. Isch bin geschützt genug.“
Damit war sein erster Annäherungsversuch gescheitert! Doch Hans spürte es kaum, denn so etwas war er seit einigen Jahren gewohnt. Und er wusste, dass er wohl etwas massiver vorgehen musste, wenn das mit seiner Annäherung etwas werden sollte.
„Waren Sie schon einmal auf Helgoland?“ versuchte er es erneut nach kurzer Zeit.
Sie schüttelte den Kopf: „Isch war noch nie auf der Nordsee! Ich bin dodaal begeischtert! Isch bin rischtig geschpannd auf die Insel! Un Sie?“
„Mir geht es wie Ihnen!“ sagte Hans, „Der Seegang macht mir Spass, und auf Helgoland werde ich schön zollfrei einkaufen!“
„Des möcht´ ich aach! Ich habe schon Aufträge von Arbeitskolleginnen, was ich ihnen alles mitbringe soll! Aber zuerscht mache ich einen Inselrundgang mit!“
„Und wenn die Zeit dann nicht mehr zum Einkaufen reicht?“
„Dann habbe die Kollegen ebbe Pech gehabt!“ lachte sie, „isch fahre doch net ihretwege nach Helgoland. Isch fahre doch meinetwege! Un isch finds herrlich!““
Das hatte etwas für sich, fand Hans. Er fuhr ja auch nicht nach Helgoland, um seinem Vetter einen bestimmten Whisky zu besorgen. Das konnte doch nur eine für sein Quartier angenehme Massnahme sein! Wenn Werner den besonderen Whisky haben wollte, den er in Wyk auf Föhr nicht kaufen konnte, musste er schon selbst eine Fahrt nach Helgoland machen! Aber das war ihm nicht möglich: Zum einen musste arbeiten, wenn von Wyk aus die Tagesfahrten nach Helgoland angeboten wurden, und zum anderen wog der Fahrpreis von Wyk aus den Vorteil beim zollfreien Einkauf auf Helgoland nicht auf: Er liess sich aber gern etwas mitbringen und empfahl schon deshalb auch seinen Gästen die Fahrt nach Helgoland.
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