Claudia hatte diese Fahrt gebucht, heute als ihre erste Freizeit vom Wyker Krankenhaus. Ihr waren die Nordsee und die Landschaft fremd. Sie kam aus einem Bereich des Nordschwarzwaldes, in dem es kein flaches Land gab, erst recht keine Nordsee. Sie war nach Wyk auf Föhr gegangen, um das geforderte Praxissemester ihres Medizinstudiums zu absolvieren. Es war nicht ganz einfach gewesen, dafür einen Platz zu finden, der auch weit genug von Heidelberg entfernt lag, ihrem Studienplatz, und von zuhause, einem Bauernhof im Schwarzwald. Sie hatte verhindern wollen, das sie von ihren Eltern auf dem landwirtschaftlichen Anwesen vereinnahmt wurde und auch, dass sich Eltern oder Geschwister auf den Weg machten, um sie während ihrer Praktikantenzeit zu besuchen. Hamburg war mit der Bahn zu leicht erreichbar: mit den neuen Zügen war es von Stuttgart aus nur noch knapp eine Tagesfahrt! Teuer zwar, aber wer wusste schon, was die Geschwister sich Verrücktes ausdachten, um die angehende Ärztin einmal zu besuchen?! In Heidelberg kam sie fast an jedem Wochenende in den Genuss eines Verwandtenbesuches! Davon musste sie sich endlich einmal befreien, und da war die umständliche Anreise nach Wyk auf Föhr gerade richtig! Von Stuttgart aus war man fast zwei Tage unterwegs, bis man endlich am Ziel war. Nur mit dem Nachtzug oder mit einem Auto konnte man die Reisezeit verkürzen. Wer sie hier besuchen wollte, musste sich schon für einen Sommerurlaub auf Föhr interessieren, sonst lohnte die weite Anreise nicht!
Es war das Jahr 1960, der Osten rasselte mit dem Säbel, der Eiserne Vorhang verhinderte das Ein- und Ausreisen von Menschen, worunter besonders die Ostdeutschen litten, denn Deutschland war geteilt seit dem zweiten Weltkrieg. Im Westen hatte man sich eine Verfassung gegeben, das Grundgesetz, an das sich alle gewählten Parteien hielten, während die sogenannte Verfassung in der sich bildenden DDR nicht das Papier wert war, auf dem sie gedruckt wurde. Diese Differenzen hatten zwar erhebliche Nachteile für die Entwicklung der Staaten, der Politik und vor allem auch der Menschen, aber weder auf der einen Seite noch auf der anderen nahm man es ganz bewusst wahr: Die Kinder wuchsen in einem eigenen Umfeld auf, dass sie kannten und für sich nutzten. Auch Claudia war so aufgewachsen, behütet und beschützt von ihrer eigenen Familie, und abgeschirmt von politischen Vorgängen in Deutschland.
Sie war „behütet“ aufgewachsen im Kreise ihrer Eltern und ihrer vier Geschwister. Sie hatte alles kennen gelernt, was man als Landwirt wissen muss. Sie hatte mit gearbeitet auf dem elterlichen Hof, sobald sie alt genug war für Handreichungen und schliesslich auch für richtige Arbeiten. Das hatte sie zu einer respektabel starken Frau gemacht.
Aber sie war auch überdurchschnittlich intelligent, hatte das Gymnasium in Pforzheim besucht und mit einer Abiturnote von 1,2 abgeschlossen. Das reichte gerade noch für die Zulassung zum Studium der Humanmedizin. Ihren Studienplatz fand sie in Heidelberg, nicht sehr weit entfernt von zuhause, was sie aber bald ein wenig bereute: Er war zu nah am elterlichen Hof gelegen. Nicht selten kam einer ihrer Brüder am Freitagnachmittag an und nahm sie mit nach Hause, wo ihr Einsatz dringend gebraucht wurde. Hätte sie die medizinische Hochschule in Hannover, Hamburg oder Kiel als Studienplatz erhalten, wäre ihr das erspart geblieben. Dabei machte sie die ihr übertragene Arbeit auf dem elterlichen Hof gern, sie ersparte ihr, sich körperlich fit zu halten, eine Notwendigkeit, die fast alle anderen Kommilitonen in die neu gegründeten Fitnessstudios trieb. Aber leider kamen diese Anforderungen vom elterlichen Hof stets zu Unzeit, wenn sie das Wochenende dafür verplant hatte, in einem Fachbereich zu lernen, in dem sie schwach war. Das musste sie dann in Nachtschichten wieder aufholen, wenn sie sich keine schlechte Note erlauben wollte. Und eine Note schlechter als eine zwei erlaubte ihr Ehrgeiz nicht!
Sie hatte für das Praktikum nicht bleiben wollen, weil ihre Eltern sie gleich wieder in die Bewirtschaftung des Hofes mit eingespannt hätten. Vom Hof würde sie nichts haben, sie war die Zweitjüngste von fünf Geschwistern, die sich vielleicht einmal um das Erbe streiten mussten, und sie hatte deshalb das Medizinstudium gewählt, um damit ihren Anteil am Erbe vorweg nehmen. Auch die übrigen Geschwister waren klug genug gewesen, sich einen Beruf zu wählen, der sie vom Hof unabhängig machte, was natürlich Geld kostete, und was als Vorwegnahme des späteren Erbes ganz oder zum Teil angerechnet werden würde. Üblicherweise erhielt der Älteste den Hof. Er musste dann seinen Geschwistern ihren Anteil am Erbe ausbezahlen. Ob er dazu in der Lage wäre, wenn der Erbfall eingetreten war, das bezweifelten alle Geschwister, und deshalb hatten sie sich für eine Lehre in einem Handwerk und danach für ein Studium entschieden, die Brüder waren bereits Ingenieure geworden, eine Schwester hatte auch schon eine Meisterprüfung abgelegt. Nur Claudia und ihre jüngste Schwester waren noch in ihrer Ausbildung. Claudia hatte nach dem Praxissemester noch mindestens sechs Semester an der Uni Heidelberg vor sich. Sie hatte das Krankenhaus Wyk auf Föhr gewählt für ihr Praktikum, weil es weit genug entfernt lag vom elterlichen Hof und von Einflüssen ihrer Eltern und ihrer Brüder.
Sie hatte sich davon versprochen, dass sie von Besuchen naher oder entfernter Verwandter verschont bleiben würde. Aber sie hatte sich nichts versprochen von den Praktikum. Was sollte ihr das Klinikum einer Nordseeinsel wie Föhr auch bieten können? Weiterbildung etwa? Was hatte diese Klinik schon zu bieten gegenüber den mit allerbester Technik und neuesten Geräten ausgerüsteten Kliniken wie Heidelberg? Nordseeklinik! Ein ruhiger Job? Sie sollte sich wundern!
Aber heute hatte sie frei! Den freien Tag wollte sie nutzen, um mehr von der Nordsee zu sehen und zu erfahren, und sie hatte deshalb auf Anraten von Schwester Hanna im Krankenhaus, mit der sie das Zimmer teilte, die Seefahrt nach Helgoland gewählt. Schwester Hanna hatte ihr lapidar erklärt, entweder sie werde seekrank, dann habe sie ein- für allemal die Nase voll von der See, oder aber sie geniesse die Fahrt und würde die Nordsee so lieben lernen, dass es sie immer wieder hierher zurückzöge. Und nun genoss sie die Fahrt! Von Seekrankheit keine Spur! Sie liess sich von den Wellen wiegen, die das kleine Seebäderschiff ruhig und gemächlich auf und ab bewegten.
Sie war auf dem Vorschiff, wo mit ihr gemeinsam etliche Jungen und Mädchen tanzten, fast jeder für sich allein, nach einer Musik, die deutlich, aber nicht überlaut aus den beiden Lautsprechern an den Aufbauten ertönte. Die Stimmung war gut, aber nicht ausgelassen, nur wenige tanzten gemeinsam miteinander: Die kannten einander offenbar und nutzten nun eine Chance, die ihnen an Land sonst erst abends geboten wurde.
Doch plötzlich wurde die Musik unterbrochen und von der Kommandobrücke aus kam die Anweisung, das Vorschiff zu räumen, denn die See würde in wenigen Minuten bewegter werden und auf dem Vorschiff könne sich dann niemand mehr gefahrlos aufhalten. Ausserdem müsse man damit rechnen, dass das Schiff mit dem Bug in Wellentäler tauchen könne, und dass die nächste Welle dann das gesamte Vorschiff unter Wasser setzen würde. Es seien genügend Plätze für alle an Bord vorhanden, im Salon oder auf dem Sonnendeck, die sie noch besetzen könnten. Die Tür zum Vorschiff würde in wenigen Minuten geschlossen, damit kein Wasser in den Salon dringe. Damit würde dann jeder, der sich nicht von Vorschiff entferne, schutzlos der Gewalt der Nordsee ausgeliefert sein, und der Nässe an Deck.
Claudia entschied sich für das Sonnendeck. Viele Plätze waren bereits besetzt, es gab keinen freien Tisch mehr, zwar noch einige Plätze an wenigen Tischen, von denen sie sich einen hätte aussuchen können, aber sie entdeckte ganz achtern über dem Heck an backbord eine Kunststoffkiste nahe der Reling. Sie sah den auf den Deckel aufgedruckten Hinweis, darauf kein Gepäck zu lagern, weil der Inhalt aus Rettungsmitteln bestehe. Sie hielt sich selbst nicht für ein Gepäckstück und konnte jederzeit wieder aufstehen. So entschied sie sich, darauf Platz zu nehmen, nach aussenbords zu sehen, die heran rollenden Wellen zu beobachten und mit den Bewegungen des Schiffs in Einklang zu bringen. Der Abstand der Rettungsmittelkiste von der Seereling war ideal, so dass sie ihre Füsse auf einen der waagerechten Relingsstreben stellen und dennoch bequem sitzen konnte.
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