»Kann sein, ich hatte zu tun, das ist meine Berufung«, antwortete Zorans Bruder müde.
»Ich weiß, ich verstehe es. Ist dir eigentlich bewusst, soweit ich gehört habe, alle hegen Hass gegen dich. Du hast allen geholfen, den Einen, den anderen, auch den Dritten. Weiß Gott, vielleicht auch den Vierten, und den Nächsten, welche danach kommen mögen. Alle wissen es, es spricht sich rum, du stehst auf allen Listen. Egal wer dich ergreift, der wird dich kalt machen«, sprach Zoran traurig vor sich hin.
»Zoran, ich kann nicht anders«, antwortete der Arzt müde.
»Wie viele hast du gerettet, wie vielen hast du geholfen?«, fragte ihn Zoran, »bestimmt mehr als genug. Du hast genug getan. Du kannst nicht die ganze Welt retten, gehe nach Hause, bitte. Lass uns nach Hause fahren, du kannst später helfen, an einem anderen Ort. Sie wartet auch auf dich«, bettelte ihn Zoran an.
»Ja, es ist nun Zeit. Ich kann mich hier nirgendwo mehr blicken lassen. Du hast vollkommen recht, sie wird verrückt vor Sorge sein«, meinte Zorans Bruder zu der Angelegenheit. »Wo hast du diese Bande her, die Fahrzeuge?« Das Wort Bande meinte er nicht negativ.
»Eine Hälfte ist aus meiner alten Einheit, oder Männer, welche ich damals ausgebildet habe. Die andere Hälfte sind Söldner, angeheuert, Amis, Engländer, Holländer, keine Ahnung, wo die alle herkommen. Das wird sehr teuer werden, du Idiot«, erklärte Zoran grob die Umstände.
»Und die Fahrzeuge?«
»Ist schon ein Wunder, was Autolack aus der Sprühdose anrichten kann, und erst die Männer, welche alle Sprachen außer der Einheimischen sprechen«, antwortete Zoran und lachte wie ein Kind, »außerdem, was kann ich denn dafür, wenn die Leute Ihre Fahrzeuge auf der Straße stehen lassen.« Zoran machte kurze Pause und schaute seinen Bruder an. »Oh Mann, bin ich froh dich zu sehen. Es gibt nicht genug Orden auf dieser Welt um dich für deine Taten zu ehren. Ich bin stolz auf dich. Du bist trotzdem, ein Idiot, mein Idiot!«
»Ich auch«, erwiderte Zorans Bruder, »ich bin auch auf dich stolz, mein Bruder, ich liebe dich.«
Sie haben das Zischen der Granate nicht hören können, sie sahen nur grelles Licht und Blitze um sich herum. Die Granate traf neben dem Fahrzeug. Das gepanzerte Fahrzeug flog in die Luft und überschlug sich mehrmals, blieb schließlich auf dem Dach liegen. Restliche fünf Fahrzeuge fuhren ein Stück weiter und suchten Schutz im Wald, Stellung wurde bezogen, Granatwerfer aufgestellt und das Feuer erwidert. Mehrere Männer rannten zum Wrack zurück.
Der Fahrer des Wagens wurde herausgeschleudert und lag unverletzt, jedoch benommen neben dem Fahrzeug. Zoran und sein Bruder saßen noch im Fahrzeug, die Männer zogen sie aus dem Wrack heraus. Überall war Geruch vom Benzin, sie müssten umgehend weg, das Fahrzeug war voll mit Waffen und Munition, es wird sich jeden Moment anzünden und anschließend explodieren.
Zoran konnte sich kaum bewegen, er war wie gelähmt. Bei der Explosion wurde er gegen die Decke des Fahrzeugs geschleudert, hatte seinen Kopf und irgendwie auch den Hals verletzt. Er hielt noch immer den weißen und blutverschmierten Kittel seines Bruders in der Hand, ließ es nicht los. Sein Bruder hatte nur winzige Verletzungen im Gesicht, sonst war nichts zu sehen. Er war tot, sein Hals wurde beim Aufschlag und den Aufschlag gegen das Dach des Fahrzeugs gebrochen.
Die Männer trugen Zoran und seinen Bruder in den Wald und verschwanden. Was danach geschah, ist Zoran entgangen, oder er hat es einfach verdrängt. Die Anwesenden haben es nicht vergessen. Zoran hat seinen Bruder vierzig Kilometer von der Explosionsstelle entfernt mit eigenen Händen begraben. Die Stelle suchte er selbst aus, an einem Berghang, direkt unterhalb der Kuppe. Der Ausblick war atemberaubend, wie auf einer Postkarte, ein tiefes Tal mit Bergen im Hintergrund, eine saftige friedliche Wiese am Waldrand. Richtung Süden, so wird sein Bruder den ganzen Tag Sonne haben.
Als letzte Worte am Grab sprach er einen Vers seines Großvaters.
»Der Feind ist stark. Mächtig. Nicht immer können wir gewinnen. Lernen wir zu verlieren, zu überleben. Danach werden wir weiter kämpfen. Ich werde kämpfen!«
Es stellte sich die Frage wohin mit Mohammad. Sie konnten ihn nicht mitnehmen, hatten keine Papiere für ihn. Sie konnten ihn weder nach Zagreb noch nach Rijeka bringen lassen, dort würde er, da er die Sprache nicht beherrschte, sofort als Feind erkannt. Die letzte Chance für ihn war die Rückfahrt in den Kessel, wo sich genug Ärzte aufhielten, aber auch seine ehemaligen Freunde und Auftraggeber. Dort wurde er vorerst am wenigsten auffallen und hätte die besten Chancen. Vorerst.
Zwei Männer fuhren mit Mohammad Richtung Sarajevo, einer von ihnen war selbst aus Sarajevo. Sie werden Mohammad ins nächste Krankenhaus bringen, dann selbst nachkommen.
Die Gruppe von Zoran drehte nach Osten, Richtung Slowenien. Eine Stunde später stießen sie auf die Fahrzeuge der Soldaten von wem auch immer. Diese Soldaten baten Zorans Kolonne, weil sie diese für echte Blauhelme hielten, um Begleitschutz. Zoran machte mit, dadurch war es noch leichter und unauffälliger aus der Kampfzone heraus zu kommen.
Zorans Männer unterhielten sich ausschließlich in Englisch, die Freischärler in deren Sprache, sie wussten nicht, dass man sie versteht, machten deswegen den Fehler. Sie erzählten im Eifer unter sich was sie jetzt für Waffen kaufen werden, was sie für das Geld alles bekommen können. Und sie erzählten noch stolz, wie sie an das Geld gekommen waren, auch wer und was in der letzten Zeit gemacht hatte. Die Freischärler brüsteten sich mit ihren Taten, erzählten wie viele Frauen und Mädchen sie vergewaltigt, wie viele Männer sie erschossen haben. Einige andere wiederum, wie sie aus den Leuten die Geständnisse herauspressten. Wie viele Schädel sie mit dem Hammer zertrümmert haben. Sie lachten dabei.
Zorans Männer, welche die Sprache verstanden, hielten sich auf Distanz und versuchten nicht zuzuhören. Sie schauten auf Zoran und warteten auf einen Befehl, egal was für welchen, Hauptsache, dass Zoran endlich das Gerede beendet. Es kam kein Befehl.
Zoran saß inmitten der Gruppe und hörte sich alles an. Nicht einmal bei den grausamsten Geschichten verzog sich sein Gesicht. Zoran wusste es, dies waren keine Angebereien, die Geschichten waren wahr. Etwas in ihm zerbrach. Er schaute sich einen Mann nach dem anderen an, führte innerlich seine Diskussion, pro und kontra, fällte die Urteile.
In einem Wald an der Grenze zu Slowenien stellten sie die Freischärler bloß. Sie nahmen ihnen alles ab, die Waffen, Fahrzeuge, das Geld. Für Zoran stand fest, es ging nicht um das Geld, das Geld war nun mal da. Zoran nahm aus der Munitionskiste mehrere Magazine für seine Waffe, befahl seinen Leuten weiter zu fahren und am Waldrand auf ihn zu warten. Er blieb mit den Freischärlern alleine.
Zoran machte kurzen Prozess. Es war ihm vollkommen egal wer, oder was, diese Männer waren. Es war ihm egal, ob sie Freunde oder Feinde waren, ob sie Väter oder Kinder waren, ob sie Familien hatten. Diese Männer waren Bestien, keine menschlichen Wesen mehr. Zoran ließ die Männer in einer langen Reihe hinknien. Jedem Mann einzeln erklärte er, was er ihm vorwarf, klagte ihn im Namen seiner Opfer an. Er verurteilte jeden Mann im Namen der Gerechtigkeit … und schoss. Nach Zorans Ermessen war diese Strafe für die begangenen Taten die mildeste Strafe. Mit einem Markierspray schrieb er an einen in der Nähe umgefallenen Baumstamm das Wort: »Drakon«. Die Menschen werden es wissen, warum dies geschah, sie werden es verstehen. Es war eine drakonische Strafe für grausame Untaten.
Als Zoran aus dem Wald kam, da wussten seine Leute, was er gemacht hatte. Niemand stellte Fragen, niemand sagte ein Wort, niemand verurteilte ihn. Die Männer bewunderten ihn, keiner von ihnen wäre selbst imstande gewesen, kaltblütig soweit zu gehen. Er tat das, was sie selbst tun wollten, aber nicht konnten.
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