Zwei Männer in Tarnanzügen glitten entlang der Häuser und blieben im Schutz einer Mauer unweit von Mohammad gebeugt stehen. Sie riefen den Soldaten neben Mohammad zu sich.
»Bleib hier, wir haben noch drei entdeckt, sie sind zurückgekommen. Bleib in Deckung. Es sind zu wenige für einen Angriff, sie suchen wahrscheinlich ihren Freund«, sagte einer der Scharfschützen und zeigte auf Mohammad.
Von der anderen Straßenseite, etwa einhundertfünfzig Meter entfernt, wurde das Feuer eröffnet. Die Schüsse galten nicht den drei Männern hinter der Mauer, sie galten Mohammad.
»Bleib hier und bewache ihn, wir machen das, los«, sagte Zoran und gab das Zeichen.
Die zwei Nachzügler in Tarnanzügen überprüften die Ladung ihrer Gewehre, verschwanden hinter der nächsten Mauer. Nach etwa fünf Minuten kamen sie zurück, hielten sich vorsichtshalber noch in Deckung.
»Die haben wir. Wir müssen schauen, wer der Mann da vorne ist, sie wollten ihn erledigen, nicht uns. Etwas stimmt nicht«, sagte der Scharfschütze und schlich zum Mohammad.
Zwischen den Häusern erschienen weitere Kämpfer in Tarnanzügen, versammelten sich um Mohammad. Der Wortführer beugte sich langsam über Mohammad. Er sah auf den ersten Blick, die Wunde war sehr schwer, dass der Mann am Boden überhaupt noch lebte, das war ein Wunder. Der Treffer muss ihm durch die Druckwelle den halben Brustkorb beschädigt haben, inklusive der Lunge. Der Lungendurchschuss war schon schlimm genug, stellte der Scharfschütze fest, jedoch schlimmer waren die Nebenschäden, den hydrostatischen Schock inbegriffen. Er fing an Mohammad zu durchsuchen und fand in der Jackentasche einen elektronischen Funkfernzünder.
»Kirche … Kirche«, keuchte Mohammad mit seiner letzten Kraft in Englisch und verlor das Bewusstsein.
Der Mann richtete sich auf und rannte auf die Kirche zu, blieb an der Tür abrupt stehen, als ob er ein grausames Bild dahinter vermutete. Sehr langsam öffnete er die Tür und betrat vorsichtig die Kirche. Nach einigen Sekunden hörte man bis auf die Straße unendliche Schreie, das Weinen unzähliger Menschen. Einige Männer von der Straße rannten auf die Kirchentür zu, konnten aber nicht mehr rein, da eine unvorstellbare Menschenmenge aus der Kirche herausströmte. Der Mann im Tarnanzug, der Scharfschütze, er wurde von der Menschenmenge aus der Kirche auf die Straße hinausgedrängt.
»Zoran, Zoran«, schrie eine Stimme aus der Kirche. Der Arzt aus der Kirche drängte sich durch die Menschenmenge und viel dem Scharfschützen um den Hals.
Zoran umarmte den Arzt, beiden Männern liefen Tränen über die Gesichter.
»Idiot, verdammter Idiot!«, schrie Zoran den Arzt erleichtert an.
»Ich habe dich nicht gerufen, danke … dass du da bist. Du bist ein Idiot, weil du wie ich selbst hier bist«, erwiderte der Arzt.
Durch die Reihen der Kämpfer auf der Straße ging ein einheitlicher Siegesschrei hoch. Sie haben ihr Ziel erreicht, sie haben den Bruder von Zoran gefunden.
Zoran und sein Bruder liefen durch die erschöpfte Menge durch, die Masse jubelte und hieß sie hochleben, obwohl sie nicht einmal wussten, wer sie befreite, oder wer die Befreier überhaupt waren. Als Zoran mit seinem Bruder an Mohammad vorbei kam, sagte Zoran:
»Es sieht nicht gut aus, er hat es nicht mehr lange. Es ist meine Schuld, hätte ich besser gezielt … wurde er sich jetzt nicht mehr quälen. Hast du etwas für ihn dabei, etwas was ihm helfen könnte?«, fragte Zoran seinen Bruder.
Der Arzt schaute auf Mohammad und erlitt offenbar einen Schock, denn er schrie laut auf:
»Los, helft mir, helft mir, dieser Mann muss am Leben bleiben!«
Ohne zu überlegen fasste Zoran die Beine von Mohammad an, auf seinen Blick sprangen zwei seiner Männer und halfen ihm mit.
»Schnell, in die Kirche, rein, rein, schnell!«, krampfhaft schrie der Arzt die Männer an.
Die Männer trugen Mohammad in die Kirche rein und legten ihn in den hinteren Bereich auf die Bänke hin. Hier hat Zorans Bruder die Patienten vorher versorgt, alle seine Sachen lagen noch ausgebreitet da. Zorans Bruder machte sich an die Arbeit. Eine der Helferinnen kam eilig in die Kirche, sah was los war, rannte weg. Nach einigen Minuten kam sie mit frischem Verbandszeug und Wasser. Gleichzeitig kam der Sanitäter vom Zorans Trupp, packte seine Ausrüstung aus und half mit. Während des Eingriffs erklärte Zorans Bruder in kurzen Sätzen was passiert war.
Zoran drehte sich um und fing an die Kirche zu durchsuchen, fand sechs Sprengpakete. Die Sprengkapseln waren nicht richtig angeschlossen, statt in die Sprengpakete waren sie eindeutig absichtlich einige Zentimeter weiter in die Rillen zwischen den Steinen gesteckt worden. Alles war exakt so, wie sein Bruder erzählte. Zoran schickte zwei seiner Männer los, um die Straße zu kontrollieren. Nach einigen Minuten kamen die Männer zurück und erstatteten Bericht. Auf einer Straßenseite wurden die Minen, Panzerfallen und Sprengfallen zuerst verlegt, dann deaktiviert. Auf der anderen Straßenseite wurde alles korrekt verlegt. Die Fallen auf der anderen Straßenseite haben sie beim Vorrücken selbst entdeckt und in die Luft gejagt, die anderen Mienen wurden bereits entweder deaktiviert oder gesichert.
Der Arzt, sein Bruder, kam auf Zoran zu.
»Ein sauberer Durchschuss, so was habe ich noch nie gesehen. Hat echt Glück gehabt. Der Einschusswinkel war eins von einer Million, nichts Ernsthaftes zerstört, die Lunge ist auch nicht kollabiert, nichts. Nicht einmal ein hydrostatischer Schock! Er hat unvorstellbares Glück gehabt, gut, dass du so schlecht schießt. Die Chancen stehen trotzdem nicht gut für ihn. Er hat schon zu viel Blut verloren, obwohl weder eine Vene noch Arterie beschädigt ist. Aber, wer weiß? Er braucht Infusion, Blut, Pflege, richtige Medikamente, er sollte schnellstens ins Krankenhaus. Ich glaube es einfach nicht, aber er ist bei Bewusstsein, komm mit …«
Zoran folgte seinem Bruder. Mohammad murmelte etwas vor sich hin, niemand verstand, was er sagte. Zoran beugte sich zu ihm und erwiderte in mildem Ton:
»Sei unbesorgt mein Freund, niemand wird dir etwas antun. Wir werden dir helfen, wir bringen dich ins Krankenhaus. Du hast vielen unschuldigen Menschen das Leben gerettet, auch wenn sie es dessen nicht bewusst sind. Du hast richtig gehandelt, wie ein Mann, wie ein Krieger, wie ein Heiliger. Du bist ein Heiliger! Nun hast du eine reine Seele, egal was du vorher getan hast. Ich danke dir, wir danken dir. Verzeihe mir bitte! Ich hätte es nicht wissen können! Verzeih mir bitte! Es tut mir so leid.« Zoran drehte sich um. Er konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Mohammad verlor das Bewusstsein.
»Wir müssen sofort weg«, sagte Zoran zu seinem Bruder.
»Bist du verrückt, er wird sterben.«
»Du kannst hier nichts mehr tun. Wenn sie dich schnappen, dann bist du dran, er sowieso. Ihn werden sie bei lebendigem Leibe zerstückeln. Wir nehmen ihn mit, ich will ihm das Leben retten, wiedergeben, nicht nehmen«, erklärte Zoran bereits leicht zornig und beendete die Diskussion.
In der Ferne hörte man die Motoren schwerer Fahrzeuge, wahrscheinlich Panzer. Zoran lief mit seinem Bruder aus der Kirche, hinter ihnen trugen mehrere Männer Mohammad auf einer Trage. Geländewagen mit Blauhelmsymbolen warteten bereits vor der Kirche. Als alle in den Fahrzeugen einstiegen, fuhr die Kolonne mit Vollgas los.
Fünf Minuten später kam die Kolonne von Fahrzeugen und den Begleitsoldaten, bejubelt von den Einheimischen. Die Soldaten konnten nicht verstehen, was los war, denn das Dorf sollte eigentlich noch immer in der Hand der Feinde sein.
»Ich suche dich seit zwei Wochen, du Idiot«, sagte Zoran zu seinem Bruder, als sie das Dorf verlassen hatten.
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