Mohammad wachte im Krankenhaus in Sarajevo auf und stellte erschrocken fest, dass er auf dem Territorium seiner Auftraggeber war. Die Geschichte mit der Kirche wird bald bekannt werden, seine alten Freunde könnten ihn jede Minute abholen.
Es lief ganz anders. Ein Arzt, begleitet von mehreren zwielichtigen Gestalten, holte ihn heimlich aus dem Krankenhaus heraus und brachte zu einem alten Mann. Bei diesem alten Mann blieb er vier Monate lang versteckt, bis seine Wunde geheilt war. Außerdem, die Stadt wurde belagert, er konnte sowieso nirgendwo hin. Der Arzt aus dem Krankenhaus kam öfters vorbei und versorgte seine Verwundung. Er meinte, er wäre ein Freund des Arztes aus der Kirche, außerdem, ein Freund des Mannes, welcher ihn angeschossen hatte. Seine Aufgabe war, Mohammad aus dem Krankenhaus zu retten und ihm so weit wie möglich zu helfen. Namen sind nie gefallen.
Der alte Mann erklärte beiläufig, der Arzt aus der Kirche und der Mann welcher ihn angeschossen hatte, wären Brüder. Er selbst wäre ein sehr alter Freund der Familie, sogar mehr als das. Mohammad führte lange Gespräche mit dem alten Mann. Außer den Vornamen hatte er nie erfahren wer, oder was der alte Mann war, nur dass er ein Gelehrter wäre. Es stand jedenfalls fest, in seinem Land, in Libanon, da hätten die Menschen diesen alten Mann als einen Erleuchteten, als einen wahren Propheten bezeichnet, als einen heiligen Mann.
Eines Tages, als er die Zeitung las, da wurde der alte Mann sehr nachdenklich. Auf Mohammads Frage, was los wäre, übersetzte der alte Mann den Zeitungsbericht.
In einem Wald unweit der slowenischen Grenze wurden Leichen mehrerer hingerichteten Männer gefunden. Hätte Mohammad es nicht bereits gewusst, dass sein Retter und seine Leuten bereits das Land sicher verlassen haben, dann hätte er auf sie als Opfer getippt. Im Zeitungsbericht stand weiter, dass niemand wisse, wie die getöteten Männer dort hinkamen. Sie hatten in der Feindesgegend nichts zu suchen. Alle wurden mit jeweils einem einzigen Genickschuss hingerichtet. Mehrere der Toten wurden bereits identifiziert. Diese Männer waren im Volk bestens bekannt, sie waren Mörder und Folterer, Helden und Freiheitskämpfer. Eine Zeitung schrie und stachelte nach der Rache, die andere verkündete ihre Genugtuung wegen der Hinrichtung. Die Zeitungen stellten übereinstimmend fest, dass die hinterlassene Nachricht des Täters, das Wort Drakon, eine tiefere Bedeutung hätte. Eine der Zeitungen schrieb, das Wort wurde in einigen Sprachen der Drache bedeuten, die Schrift wäre in roter Farbe, also ginge es um einen roten Drachen. Die andere Zeitung widersprach, sie war eher der Überzeugung, dass sich der Rächer auf den Drakon und auf seine Straffart beruft.
Das war die Fluchtstrecke von den Leuten, welche in das Dorf kamen, kombinierte Mohammad. Der Zeitfenster passt. Ohne weitere Indizien wollte er sich keine falschen Gedanken mehr machen. Die Leute waren weg, und das war gut so, sie waren nicht die Opfer.
In der Zeit, welche Mohammad bei dem alten Mann verbrachte, tauchten weitere Berichte über den Drakon. In verschiedenen Landesteilen wurden hingerichtete Verbrecher gefunden. Allen war eine Nachricht beigefügt worden, ob auf Papier, an irgendeiner Wand, oder sogar direkt an den Körpern. Die Nachricht war immer gleich und einfach, das Wort Drakon in roter Schrift. Es gab bereits Nachahmer, außer dem wahren Drakon war sonst niemandem das bewusst. Manchmal fragte sich Mohammad, ob der Mann mit den seltsamen Augen auf dieser Weise sein Krieg führte, verwarf jedes Mal den Gedanken, denn dieser war vollkommen absurd.
Der alte Mann erklärte ihm die Weltgeschehnisse aus einem ganz anderen Geschichts- und Betrachtungswinkel. Die Erklärungen dauerten fast zwei Monate an. Der alte Mann erzählte ihm ein Märchen. Nur … ein Märchen.
Am Ende dieser, für Mohammad der wunderbarsten Zeit seines bisherigen Lebens, sagte Mohammad ein schlichtes: »Ja.« Er hatte es verstanden, endlich verstanden.
Mohammad bekam neue Papiere und Geld, viel Geld. Das Geld kam von dem Mann, der ihn angeschossen hatte, sagte der alte Mann abwesend. Er gab Mohammad die Namen und Adressen der Verbindungsmänner, welche ihn außerhalb des Landes herausbringen werden, gab ihm den Tipp nach Kreta zu verschwinden, bereitete diesbezüglich alles für ihn vor. Beim Abschied erwähnte der alte Mann beiläufig, einst war er selbst ein Krieger gewesen, stand sogar dem letzten Jäger zur Seite. Er wünschte sich, Mohammed wäre nun erwachsen geworden und würde selbst seinem Jäger beistehen, dass er endlich ein erwachsener Mensch wird und kein Spinner mehr. Er solle seinem Schicksal folgen.
Mohammad fragte nach, was er mit der Bezeichnung Jäger meinte. Der alte Mann antwortete zuerst nicht, sagte schließlich, er solle es lieber nicht wissen wollen, sonst wird sein Leben noch beschwerlicher werden, als es schon sei. Vielleicht wird Mohammad eines Tages den Ruf hören und Seite an Seite kämpfen. Dann sollte sich Mohammad an ihn erinnern und für ihn, in seinem Namen, mitkämpfen. Sein Geist und seine Kraft werden ihn begleiten, seine Seele wird ihm beistehen, denn er möge ihn. Der große Jäger hätte ihn gemocht.
»Vergiss es nie, Blut ist stärker als Wasser, so sagt man es bei uns. Oder, Apfel fällt nicht weit vom Baum. Das ist dasselbe. Der letzte Jäger ist tot.« Der alte Mann machte die Augen zu und tauchte in seine Erinnerungen und Gedanken ein. »Aber er lebt, das weiß ich, und er ist stärker denn je zuvor. Stärker, als er es zu denken vermag! Nur, er weiß es nicht. Das haben wir gut gemacht … hat geklappt. Ich habe alles getan, um was er mich gebeten hatte. Schade, ich bin zu alt. Ich würde ihm gerne zur Seite stehen, dem neuen Geist. Verdammt, warum bin ich nur so alt, wer wird ihm jetzt beistehen? Er hat sich seinen Weg selbst ausgesucht. Wer wird ihn jetzt begleiten? Verdammt! Er ist allein, sieht die Tausende um ihn herum nicht.«
Der Alte schaute den Mohammad an, ging zum Fenster und lehnte sich auf die Fensterbank. Mohammad ließ ihn in Ruhe, stellte keine Fragen. Natürlich hat er die Worte des alten Mannes nicht verstanden.
Mohammad bekam das Handy. Er tat das, was der alte Mann vorgeschlagen hatte, er verschwand. Seit dem Tag wartete er sehnsüchtig auf den Anruf. Er wollte unbedingt seine Pflicht erfüllen und Kämpfen, diesmal gegen den richtigen Feind antreten, das tun, was der alte Mann ihm vererbte. Seit Sarajevo war er auf den Kampf bereit und dachte ständig an den alten Mann. Er wird dem Alten folgen. So wie dieser alte Mann wäre sein Vater geworden, wäre er damals nicht … für ihn gestorben.
Mohammad hatte, außer seiner Erinnerungen, nichts mehr zu verlieren. Gar nichts. Alle aus seinen Erinnerungen und Gedanken waren tot. Sein Vater und der alte Mann waren tot, er selbst war schon lange tot. Diesmal wird er den Krieg des Alten führen und das machen, was der Alte einst sagte. Der Tag wird kommen … und er wird dabei sein.
Selbst Schicksal macht Fehler
»Er lebt, aber nicht mehr lange. Passt auf ihn auf, mal sehen, ob von ihm noch etwas zu erfahren ist«, sagte der Mann, welcher mit seinem Stiefel den Mohammad umgedreht hatte.
»Was soll der schon sagen, was wir nicht wissen«, meinte jemand.
»Ach, lass uns lieber weiter gehen und die Anderen erwischen, sie sind nicht weit gekommen.«
»Nein, passt auf ihn auf, ich will ihn für Zoran, vielleicht spricht er noch etwas«, ordnete der erste Soldat an. Als er den Namen Zoran erwähnte, zuckten alle zusammen, keiner der Anwesenden widersprach.
Einer der Soldaten blieb neben Mohammad knien, schussbereit mit seinem Gewehr in Anschlag.
Die Sonne geht unter, stellte Mohammad fest, in diesem Land wird es schnell dunkel. Er sah die Sonne nicht mehr.
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