Die jungen Männer verlassen die Garderobe, steigen treppauf, treppab. Nun haben sie die Hinterbühne erreicht. Deutlich ist Karl Moor auf der Bühne zu hören. Das Stichwort ist gefallen. Die gesamte Statisterie brüllt: „Hauptmann, Hauptmann, wir kommen!“ Enge, dunkle Stiegen klettern sie hinauf und wiederholen lautstark: „Hauptmann, Hauptmann, wir kommen!“ Jetzt stehen sie im Scheinwerferlicht. Thomas ist geblendet vor Glückseligkeit. Vor sich sieht er den Hauptmann, dargestellt von Günter Grabbert, seinem Lieblingsschauspieler. Schaumfetzen fliegen aus dessen Munde. Und noch immer steigert sich der Schauspieler in seine wilde Entschlossenheit hinein, brüllt, schreit, rast, ergreift einen Statisten bei den Schultern, schüttelt ihn und schleudert ihm die Worte ins Gesicht: Ich könnte dir noch mehr erzählen ..., lässt von ihm ab. Der junge Mann wankt, scheint das Gleichgewicht zu verlieren, fängt sich aber, wischt sich mit der Hand über das Gesicht.
Thomas blickt in den dunklen Zuschauerraum. Nur das Publikum in den ersten Reihen ist deutlich zu erkennen. Sichtlich ergriffen sitzt es auf seinen Plätzen. In Gedanken ist Thomas nicht mehr der anonyme Räuber, der anonyme Statist, er verwandelt sich in Karl Moor, reißt das Publikum von den Plätzen ...
Das Stück ist zu Ende. Erst Stille, dann tosender Applaus. Die Lichter im Saal nehmen an Stärke zu, immer mehr Gesichter sind zu erkennen. Thomas hält Ausschau nach Freunden, Bekannten. Kein ihm vertrautes Gesicht ist zu sehen. Der Vorhang wird geschlossen, um gleich wieder geöffnet zu werden. Der Komparseriechef gibt seine Anweisung durch: Beim nächsten Vorhang Abgang!
Auf dem Weg zum Hauptbahnhof sagt Volker zu Thomas: „Hast du auch wie ich den Eindruck gewonnen, dass der Schlehmilch, der Garderobier und der Maskenbildner Schwule sind?“
„An so etwas habe ich gar nicht gedacht“, gesteht Thomas freimütig, ich finde sie nur sehr freundlich und zuvorkommend.
Es ist Juli. Thomas ist froh, die elfte Klasse hinter sich zu wissen. Die Naturwissenschaften quälen ihn, verweigern ihm jeden Erfolg. Immer wieder stellen sie Hindernisse in den Weg, über die er stolpert. Immer wieder gefährden sie seine Existenz als Oberschüler.
Thomas steht vor dem Haus seines Freundes Volker. Im Vorgarten hinter dem schmiedeeisernen Zaun blühen Blumen. Die ergraute Fassade des Hauses sieht freundlicher aus, wenn die Sonne scheint. Rasch steigt Thomas in den dritten Stock, drückt mit Gefühl den Klingelknopf. Statt seines Freundes öffnet dessen Mutter. Freundlich lächelnd bittet sie ihn einzutreten. Im Wohnzimmer stellt Thomas fest, dass er mit dieser Frau allein ist.
„Volker hatte keine Möglichkeit, dir abzusagen. Ihr habt doch zu Hause kein Telefon, nicht wahr?“
Thomas nickt.
„Nun setz dich doch erst einmal, mein Junge. Ich beiße doch nicht.“
Thomas lässt sich in den Sessel gegenüber der Couch gleiten. In seiner Haut fühlt er sich nicht wohl. Die Gegenwart dieser attraktiven und selbstbewussten Frau beunruhigt ihn, irritiert ihn, bringt ihn in Verlegenheit.
„Die Schule liegt nun erst einmal hinter euch,“ setzt Volkers Mutter das Gespräch fort. „Ich nehme an, du hast alles gut überstanden. Und nun habt ihr erst einmal Ferien.“
Thomas nickt wieder.
„Bist du immer so gesprächig“, lacht sie und zeigt dabei ihre gepflegten Zähne.
„Es ist auch dieses Mal wieder alles gut gegangen“, Thomas hat das Gefühl zu stottern. Wieder verspürt er diesen Kloß im Hals.
„Wusste ich es doch!“
Ihre Augen begegnen sich. Sie lächelt. Er wird verlegen, senkt den Blick, dann blickt er auf, schaut ihr in die Augen, fest entschlossen, ihrem Blick standzuhalten, ihm zu widerstehen.
„Wusste ich es doch, dass du es kannst. Ich hole uns etwas zu trinken. Sicher magst du einen Cognac.“
Aus dem Schrank holt sie die Flasche, zwei Gläser. Jetzt bemerkt Thomas, dass sie unter der Schürze nur einen Büstenhalter und einen Slip trägt.
Lange, schöne, schlanke Beine hat sie, stellt er fest.
Sie stellt zwei Gläser auf den Tisch, die Flasche, kuschelt sich in die Couch, zeigt dabei ihre Beine. lächelt wieder, sagt dann: „Wusste ich es doch, du traust dich nicht.“
Nervös streicht Thomas seine blonden Locken aus der Stirn, versucht gegen den Schweiß anzukämpfen, der sich auf seiner Haut zu bilden droht. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Ihm fehlt die Erfahrung. Hilflos lächelt er die Frau an, wartet auf ein Zeichen von ihr.
Ermutigend lächelt sie zurück, wartet ab.
Thomas spürt, wie die Hitze in ihm aufsteigt. Er bildet sich ein, seine Ängste müssen ihm in das Gesicht geschrieben sein. Noch immer zögert er, wartet ab, ist gerade entschlossen ...
Die Frau erhebt sich von der Couch, geht um den Tisch herum, nimmt die Flasche in die Hand. Dabei berührt sie Thomas scheinbar unbeabsichtigt mit ihren langen, schlanken Beinen. Thomas spürt ihre Haut auf seiner Haut. Ihre Haut fühlt sich gut an, so weich und geschmeidig. Ohne ein Wort füllt sie die Gläser, neigt sich zu Thomas herab, flüstert kaum hörbar: „Prost“. Ihr Atem streift Thomas. Angenehm nach Pfefferminze duftet er.
„Prost“, antwortet Thomas, befürchtet, nicht gehört zu werden, zu versagen.
Ihre Gläser berühren sich.
Thomas spürt den Cognac auf der Zunge, schmeckt ihn, leert das Glas.
Die Frau lächelt. Ihre schmale Hand mit den langen Fingern umfasst die Flasche. Wieder stehen zwei gefüllte Gläser auf dem Tisch. Rotbraun schimmert ihr Inhalt in der Sonne. Thomas hat das Gefühl, seine Ängste und Hemmungen schleichen davon, seine Unbeholfenheit weicht, Mut und Entschlossenheit greifen nach ihm, geben ihm Selbstvertrauen und Sicherheit. Thomas ist zufrieden mit sich. Seine Hand sucht das Glas. Seine Fingerspitzen berühren die der Frau. Er spürt ihre Wärme. Ein Verlangen nach Zärtlichkeit durchflutet seinen Körper. Ihre Finger verschlingen sich ineinander. Ihre Blicke begegnen sich. Sie fordert ihn auf. Wieder hat er Hemmungen. Sie ist die Mutter seines Freundes. Sie ist älter als er. Sie hat einen Partner, feste Bindungen, die will er nicht zerstören. Sein Gewissen peinigt ihn. Er soll Grenzen überschreiten, die er überschreiten möchte, aber gleichzeitig auch nicht überschreiten will, weil er Angst hat. Sie ist die Mutter seines besten Freundes. Wie soll er ihm in die Augen sehen? Wie soll er in Gegenwart seines Freundes dieser Frau begegnen, die die Mutter dieses, seines besten Freundes ist? Bilder stürmen auf ihn ein, Gedanken, Befürchtungen. Was wird seine Mutter sagen, wenn sie erfährt, dass ihr Junge die Mutter seines Freundes liebt, mit ihr ... Weich und sanft ist der Druck ihrer Hand. Willenlos überlässt er sich dieser Hand, die seinen Körper streichelt, liebkost, ihn vergessen lässt. Er ist nur noch Gefühl. Er weiß nicht mehr, was mit ihm geschieht. Wie ein führerloses Schiff lässt er sich treiben. Noch nie in seinem Leben hat er so schön die Passivität empfunden. Er tut nichts und fühlt sich wie im Rausch. Ihr Mund tastet seinen Körper ab, erkundet seinen Körper. Er lässt es einfach geschehen.
Als Statisten wirken Volker und Thomas in einigen Stücken mit, so dass ihre Abende ausgefüllt sind. Wieder stehen „Die Räuber“ auf dem Spielplan. Hinter der Bühne wartet geschlossen die Statisterie. Das Stichwort ist gefallen. Wie die anderen auch stürzt Thomas die schwankende Holzstiege hinauf. Dicht hinter sich weiß er Volker. Scheinwerferlicht empfängt ihn. Er steht auf der Bühne. Die Gruppen formieren sich. Von Gruppe zu Gruppe geht Herr Schlehmilch. Jetzt nähert er sich Volker, Thomas und Matthias, sagt: „Deutlich singen, Kinder. Heute haben wir wieder ein volles Haus.“
Nun steht der Statistenchor im Mittelpunkt, trägt sein Lied vor: „Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne. Der Wald ist unser Nachtquartier. Bei Sturm und Wind hantieren wir. Merkur ist unsere Sonne.“ Nach der Vorstellung gehen Thomas und Volker mit den anderen in die Kantine. Mitunter begegnen sie dort den Schauspielern. Inzwischen kennt Thomas die Mitglieder der Statisterie, weiß, was sie beruflich tun. Aus den unterschiedlichsten Bereichen kommen sie. Viele sind Oberschüler und Studenten, aber auch Arbeiter sind unter ihnen, Lehrlinge, Angestellte.
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