Als Thomas der Mutter seines Freundes gegenübersteht, wird er verlegen. Es ist die Verlegenheit, die über ihn kommt, wenn er mit einem Mädchen spricht, das ihm sehr gefällt und dem er es auch sagen möchte, dass sie ihm gefällt, es sich aber nicht getraut. In diesen Augenblicken ergreift eine Angst von ihm Besitz, die er sich selbst nicht erklären kann; er befürchtet, wenn er zu reden gezwungen ist, dann zu stottern, weil sein ganzer Körper vor Aufregung verkrampft und verspannt ist. Volker hat mit Abstand die jüngste und bestaussehende Mutter von allen Freunden und Schulkameraden. Dieses Urteil steht für Thomas unwiderruflich fest. Wie Volker hat auch die Mutter dunkle, nachdenklich blickende Augen. Ihre dunkelbraunen, leicht gewellten Haare, die bis zu den Schultern reichen und die offenbar nicht gefärbt sind, rahmen ein schmales, ausdrucksvolles Gesicht ein. Ihre Lippen wirken voll und kräftig, auch ohne Lippenstift. Sie reicht Thomas zur Begrüßung die Hand, sagt dabei etwas, was Thomas gar nicht wahrnimmt. So beeindruckt ist er von dieser Frau mit der sanften, angenehm klingenden Stimme, die in den Ohren des Jungen wie Musik sich anhört.
Ihr Partner ist wesentlich älter als sie. Zumindest ist das der Eindruck von Thomas. Vielleicht liegt das daran, denkt Thomas, weil er lange graue Haare hat und einen langen grauen Vollbart.
Die große randlose Brille unterstreicht noch seinen intelligenten Gesichtsausdruck. Auch dieser Mann verfügt über eine Stimme, die Thomas sehr gefällt, weil sie so volltönend und gleichzeitig weich ist.
Nun wird Kaffee getrunken aus Tassen, die Thomas unter der Bezeichnung Sammeltassen kennt. Irgendwie hat sich Thomas den Ausdruck für ihre Farbgebung gemerkt: Kobaltblau. Volkers Mutter fragt Thomas nicht aus, wie das andere Mütter oft tun, die wissen wollen, was seine Eltern beruflich tun, wo und wie sie wohnen, wie viele Geschwister er hat. Sie erkundigt sich nach seinen Interessen, nach seinen beruflichen Wünschen. Dabei blickt sie freundlich lächelnd in die Augen des Jungen. Das verwirrt Thomas, und er hat das Gefühl, sein Gesicht läuft rot an. Auch wird ihm heiß. Er hat Angst, Schweiß könnte sich bilden. Volkers Mutter bemerkt seine Verlegenheit und wendet sich dem Teller mit dem Kuchen zu.
„Thomas - ich darf dich doch bei deinem Vornamen nennen - möchtest du noch ein Stück Kuchen?“
„Gern“. Wie fremd doch meine Stimme klingt! Warum bin ich immer so gehemmt, so verkrampft? Die Frau ist doch einfach eine Wucht! Sie ist so nett, so sympathisch. Und ich! Thomas ist wieder mit sich nicht zufrieden.
„Edelgard, du bringst den jungen Mann noch in Verlegenheit! Während er das sagt, lächelt ihr Partner.“
„Warum sollte Thomas verlegen werden? Ich bin überzeugt, der Junge hat genug Selbstvertrauen. Auch hat er keinen Grund dazu, nicht wahr, Thomas?“
„Der Kuchen schmeckt ausgezeichnet.“ Thomas ist über sich selbst erstaunt, wie schnell ihm dieser Satz über die Lippen gekommen ist.
„Hast du gehört, Johannes? Schmeicheln kann Thomas auch.“
„Edelgard, wir gehen jetzt los. Ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde.“
„Habe ich richtig gehört? Volker redet seine Mutter mit dem Vornamen an?“ Wieder ist Thomas überrascht.
Die Ärztin hatte darauf gedrungen: Vater Boronsky musste sich eine andere Arbeit suchen, eine körperlich leichtere.
Vater Boronsky wird Kassenbote. Der Betrieb nennt sich Institut, beschäftigt nur Diplomingenieure, Ingenieure, Sekretärinnen, kaum Arbeiter.
„Den ganzen Tag bin ich auf den Beinen, laufe hierhin, laufe dorthin, gebe etwas Versiegeltes ab, hole etwas Versiegeltes. Und jetzt bin ich noch zum Theaterobmann gewählt worden, habe nicht nur die Theaterkarten zu besorgen, sondern auch die Programme, Prospekte ... Heute habe ich die Anrechtskarten geholt für die Herren Diplomingenieure, Ingenieure, für die Sekretärinnen. Die Arbeiter haben kein Anrecht, obwohl es das Institut gerne sehen würde, wenn die Arbeiter von ihrem Recht auf ein Anrecht Gebrauch machen würden.“
„Wir brauchen auch kein Anrecht, unterbricht ihn Mutter Boronsky. Wenn Thomas mit mir ins Theater geht, bekommen wir unsere Karten an der Kasse oder wir warten, bis uns welche angeboten werden.“
„Und das wollte ich gerade tun.“ Ein Lächeln umspielt die Mundwinkel von Vater Boronsky. „Ich wollte euch gerade Karten anbieten, da werde ich auch schon unterbrochen. Ich wollte sagen, es gehört sicher zum guten Ton, dass die Studierten ein Anrecht auf ein Anrecht für das Theater haben, denn bei Weitem nicht alle gehen in die Vorstellung, vielmehr versuchen viele, ihre Karten zu verkaufen, zu verschenken. Zwei Karten habe ich für euch mitgebracht, für das Schauspielhaus.“
„Ich werde gleich einmal den Spielplan in der Zeitung mir vornehmen.“ Thomas ist von dem Angebot begeistert. Schnell hat er die Seite mit den Theaternachrichten gefunden. „Frau Flint“ bringen sie.
„Bestimmt so ein neuzeitliches Stück“, meldet sich Vater Boronsky wieder zu Wort, „das kein Mensch sehen will.“
„Mutter und ich werden es uns ansehen“, entscheidet Thomas.
Frau Boronsky widerspricht nicht.
„Da schickt dir Helga zum Geburtstag eine so schöne Hose, und du ziehst sie nicht einmal für die Schule an. Und ich habe gedacht, die ist gerade praktisch, ideal für die Schule. Auch kleidet sie dich. Richtig sportlich siehst du in ihr aus. Wie angegossen sitzt die Hose. Bei uns in den Geschäften habe ich noch nie so eine schöne und praktische Hose gesehen ...“
„Weil diese Hosen bei uns nicht hergestellt werden. Mutter! Das sind Jeans. Niethosen! Diese Hosen gibt es nur drüben. Und in der Schule ist es verboten, in diesen Dingern herumzulaufen.“
„Verstehe ich nicht.“ Frau Boronsky sieht ungläubig ihren Sohn an. „Wieso kann etwas verboten sein, was praktisch ist. Obendrein sehen diese Hosen manierlich und schick aus.“
„Mutter! Weil die von drüben sind! Deshalb!“
„Deshalb kannst du sie nicht in der Schule tragen? Und wenn einer nur solche Hosen hat? Manche bekommen doch alles von drüben.“
„Dann muss er sich ordentliche bei uns für die Schule kaufen. In den Dingern darf er sich nicht in der Schule sehen lassen. Das sind Hosen vom Klassengegner! Vom Klassenfeind! Und Dinge vom Klassengegner haben in der Schule nichts zu suchen. Deshalb trage ich sie auch erst nach der Schule. Erst vor drei Wochen wurde einer aus der zwölften Klasse gemaßregelt. Trotz wiederholter Ermahnungen kam er immer wieder in dieser Kluft. Einen Schnurbart hatte er sich auch wachsen lassen. Die Folge: strenger Verweis beim Fahnenappell. Im Wiederholungsfall Verweis von der Schule. Den Tag darauf erschien er ohne Schnurbart und ohne Jeans. Andere waren auch gleich beim Friseur gewesen. Wir dulden keine Gammler, hatte der Direktor lautstark während des Fahnenappells verkündet. Niethosen und lange Haare sind Auswüchse der Dekadenz, hatte er gebrüllt, sind unverkennbare Kennzeichen des Klassengegners, der unseren Arbeiter- und Bauernstaat unterminieren will; Niethosen und lange Haare sind äußerliche Merkmale des Klassenfeindes. Wer mit dem Klassenfeind sympathisiert, hat der Direktor gesagt, sich mit ihm identifiziert, indem er sich die Haare lang wachsen lässt und Nietenhosen trägt, hat an unserer sozialistischen Oberschule nichts zu suchen. Wir im Sozialismus dulden keine Nieten!“
„Das soll der Direktor gesagt haben? Das glaube ich nicht!“ Frau Boronsky schüttelt ungläubig den Kopf. „Solche schönen und praktischen Hosen sollen verboten sein? Ich kann das nicht glauben, mein Junge.“
Blondi tobt. So erregt und aufgebracht hat ihn Thomas noch nicht erlebt.
„Was bilden Sie sich eigentlich ein,“ schreit der Klassenleiter. Am liebsten hätte er Michael durchgeschüttelt. „Was bilden Sie sich eigentlich ein?“
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