Dies waren vor langer Zeit Aodréns Worte gewesen, als er Sévran zum ersten Mal erlaubt hatte, ein uraltes, halbzerfallenes Manuskript auf hauchdünnem Hundsleder zu entrollen, dass er von einer seiner langen Reisen mitgebracht hatte. Aodrén hatte ihm damals mit leuchtenden Augen erklärt, dass es in Hippokrates’ eigener Hand niedergeschrieben war. Wie alle anderen Dinge, die sein alter Mann ihm hinterlassen hatte, hütete Sévran diese Schriftrolle, wie einen Schatz.
„Ach, lasse es doch gut sein! Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, tadelte er sich selbst mit leisem Spott. Aodrén - zu seinen Lebzeiten – hätte ihn genauso gescholten. Sévran beschleunigte den Schritt. Als er den eisigen, engen Gang endlich hinter sich gelassen hatte, stieg er energisch und mit leichtem Schritt die steile Treppe nach oben ans Tageslicht.
Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sein neuer „Lehrmeister“ Arzhur de Richemont nach der zünftigen Strafpredigt vom Morgen noch unter vier Augen unbedingt mit ihm ausdiskutieren musste. Egal wie deftig Richemont ihn jeden Tag ausschimpfte; seine Fähigkeiten mit Schwert und Lanze umzugehen wurden davon auch nicht besser! Er brauchte eben einfach mehr Zeit und die Gelegenheit, die anderen zu beobachten, um dann die Fertigkeiten die er sah auszuprobieren. Irgendwann würde er schon herauszufinden, wie sie es anstellten auf dem Pferderücken zu bleiben, wo er immer in den Dreck flog.
Trotzdem zog Sévran es vor diese unangenehme Geschichte lieber gleich hinter sich zu bringen, anstatt die wenigen kostbaren Nachtstunden nach dem gemeinsamen Abendmahl mit Richemont zu vergeuden. Die Nacht war das Einzige, was ihm alleine gehörte, seit er in Rennes lebte. Er hatte absolut keine Lust, sich diese kostbaren Augenblicke, verderben zu lassen, für die er niemandem Rechenschaft schuldig war. Darüber hinaus hatte er einen höchst interessanten Versuch in „seinem“ Laboratorium stehen…eine Idee, die er in den Notizen von Aodrén gefunden und vervollständigt hatte. Er musste diesen Versuch unbedingt vor der nächsten Mondphase zum Abschluss bringen, wenn er versuchen wollte, dem Weib eines der Knechte der herzoglichen Stallungen noch zu helfen, bevor es zu spät war. Die Ärmste litt an einer seltsamen Art der Schwindsucht und die Bader trauten sich nicht, sie zu behandeln, weil der Fall so hoffnungslos aussah. Die Sterne standen günstig. Sie würden die Kraft seiner Tinktur ungemein verstärken.
Sévran de Carnac durchquerte den Innenhof der Festung in für ihn ungewöhnlicher Eile. Die Sonne verschwand bereits in einem weichen, roten Farbton hinter dem Horizont. Ein paar gräulich schimmernde Wolken vereinigten sich mit den Nebeln, die über der Ille und der Vilaine langsam hochzogen, während die frühlingshafte Wärme des Tages nächtlicher Kühle und Frische wich. Für einen kurzen Augenblick erkannten die Augen des jungen Mannes undeutlich den großen und den kleinen Wagen am Himmel. Sein Herzschlag wurde schneller... Nicht mehr lange und der Drache würde über ihnen auftauchen, während zur Rechten Andromeda, Kassiopeia und Perseus leuchteten. Sämtliche Wintersternbilder verschoben sich gerade langsam hinüber in die westliche Hemisphäre. Sie machten endlich der Jungfrau und der Wasserschlange Platz am Firmament. Und über der Wasserschlange erschien, wenn alle seine Berechnung richtig waren, genau um Mitternacht der Rabe... Nur wenige Adepten schenkten ihm bei ihrer Arbeit überhaupt noch Beachtung. Die meisten waren einfach zu ängstlich und wagten es nicht, sich auch der dunklen Kräfte der Natur zu bedienen. Sévran riss sich vom Himmel und den Gedanken an seinen Versuch und das kranke Weib los. Es war noch viel zu hell für Mond und die Sterne, auch wenn das rasch schwindende Tageslicht schon lange alles Arbeiten im Freien unmöglich machte. Mit Ausnahme der Stallknechte, die in großen Körben Heu für die Pferde zu den Stallungen schleppten, war der Innenhof der Festung menschenleer. Aus den Küchengebäuden zog bereits der angenehme Duft von frisch gebratenem Fleisch und kräftig gewürzten Soßen an seine Nase und brachten ihm einen ausgesprochen hungrigen Magen in Erinnerung, doch bis zum Abendmahl hatten sie unglücklicherweise noch viel Zeit.
Sévran nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe zum Palas hinaufeilte. Sein weites, schwarzes Gewand und die offenen, schwarzen Haare flatterten im Wind seiner geschmeidigen Bewegungen und gaben ihm in der anbrechenden Dunkelheit das Aussehen eines unheimlichen Nachtvogels. Die beiden Wachleute an der Pforte wurden von seinem unvermuteten Auftauchen aus der Dunkelheit so überrascht, dass sie ihre Lanzen hoben und einfach zur Seite sprangen, um ihn einzulassen. Er war schon fast im kleinen Saal, direkt neben der großen Halle angekommen, als er einen von ihnen bösartig „Satansbraten“ hinterher fluchen hörte.
Ein hinterhältiges, kleines Lächeln schlich über sein junges Gesicht. Anstatt ihn zu beschimpfen sollten die beiden Kerle lieber dankbar sein, dass nur er durch die Pforte gerannt war. Wenn je einer ihrer Offiziere oder Arzhur de Richemont sie so überrumpelt hätten, dann wäre beiden zur Strafe nicht nur für mindestens einen Tag der Sold gestrichen worden. Sie hätten vor versammelter Mannschaft, ohne viel Federlesen, auch noch eine gewaltige Tracht Prügel für ihre Nachlässigkeit bezogen. Es war ihre Aufgabe jeden – ohne Unterschied - zu kontrollieren, um sicher zu stellen, dass niemand sich mit einer Waffe oder einem anderen gefährlichen Objekt Herzog Yann de Montforzh nähern konnte.
Gerade weil Yann sich in den Krieg zwischen den Engländern und den Franzosen nicht einmischte, hatte der Herr der Bretagne, dem sein Volk sogar den Ehrennamen „Yann der Weise“ gegeben hatte, entlang beider Landesgrenzen und jenseits des Meeres nachtragende und gefährliche Feinde. Es waren natürlich genau die gleichen Männer, die auch seinem Vater den Tod wünschten.
Doch um Cornouailles anzugreifen zu können, musste man zuerst einmal die Bretagne besiegen und besetzen. Und solange der magische Schild, den die Korred vor eintausend Jahren für seinen Vorfahren Rhiotomas geschmiedet hatten sich in der Festung von Concarneau befand, war es für jeden widerlichen Meuchelmörder oder treulosen Verräter tödlich auch nur den Versuch zu unternehmen, Ambrosius anzugreifen. Die wenigen, die es je gewagt hatten, die Quinotauren herauszufordern, waren für ihren Frevel von den Göttern grausam bestraft worden.
Bedienstete stellten in der Halle schon die langen Bänke und Tische auf, an denen der gesamte Hof abends immer speiste. Die herzogliche Tafel befand sich, wie gewöhnlich mit schönen, weißen Leintüchern abgedeckt, ganz in der Nähe des Kamins. Yanns Mundschenk überwachte ein paar Mädchen, die vorsichtig kostbare Kristallkelche für Wein und Wasser aufstellten. Ein kräftiger, junger Knecht schichtete riesige Holzscheite neben dem offenen Feuer. Ein zweiter Mann zündete Fackeln an. Sévran konnte bereits eine behagliche Wärme spüren, als er den Raum durchquerte. Das Gesinde war so mit ihren Pflichten beschäftigt, das niemand seine schlanke, dunkle Gestalt bemerkte, die wie ein Schatten durch den Raum glitt.
Als er im kleinen Saal ankam, schien der Ort genauso verlassen, wie der Innenhof. Nur in einer Ecke, neben einer Fensternische am Kamin brannte ein einsamer Leuchter. Sévran wollte schon kehrt machen, als er plötzlich Schritte auf dem nackten Steinboden hörte. Kurz zuckte der junge Mann zusammen. Dann erkannte er im sanften Kerzenschein seinen neuen Lehrmeister Arzhur de Richemont.
„Mesire“, unwillkürlich dämpfte Sévran seine Stimme.
Ein flüchtiges Lächeln glitt über das vernarbte Gesicht von Richemont. Abgesehen von einer sehr eigensinnigen Auffassung über die ritterliche Waffenkunst und den Gebrauch der Waffen gefiel ihm Ambrosius Arzhurs jüngster Sohn gar nicht übel: Natürlich konnte er sich weder mit Aorélian, noch mit Glaoda messen, doch Sévran war kaltblütig und umsichtig. Er besaß Mut und Geistesgegenwart und im Gegensatz zu den meisten anderen jungen Männern am Hof von Rennes hatte er mehr im Kopf, als nur dass, was für einen Krieger absolut überlebensnotwendig war...und zäh und verbissen war er auch.
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