Es war eine Sache, was die Leute hinter vorgehaltener Hand munkelten. Es war eine andere Sache, offen und vor den Augen der Welt zuzugeben, dass die Weiße Bruderschaft der Drouiz die Jahrhunderte der gnadenlosen Verfolgung und Ausrottung der Anhänger der alten Religion durch die neue, christliche Kirche dank der umsichtigen Politik der Herzöge von Cornouailles fast unbeschadet überstanden hatte.
„Achtzehn. Kaum ein Mann. Da hast Du Dich aber mächtig beeilt, Ollamh! “erwiderte Richemont mit einem breiten Grinsen.
Sévran hob zum ersten Mal den Kopf. Dabei fielen die langen, schwarzen Haare, die zuvor wie ein Schleier vor seinem Gesicht gelegen hatten über seine Schultern zurück und gaben endlich den Blick auf ein schwarzes Augenpaar frei. Er nickte zur Antwort auf die Frage seines Lehrmeisters nur zögernd, doch dann fragte er leise, den Blick angespannt forschend auf Richemonts Gesicht gerichtet: „Warum interessiert Euch das eigentlich, Mesire?“
Arzhur machte gelassen seinen nächsten Zug. Schließlich richtete auch er sich auf und lehnte sich zurück. Seine Hände ruhten auf den geschnitzten Eberköpfen der Armstützen. Zwischen ihnen auf dem Tisch, neben dem Schachbrett, stand ein Leuchter. Das weiche Licht der Kerzen verwischte die hässlichen Narben auf seiner Stirn und die andere Narbe, die vom Ohransatz, wie eine tiefe Furche quer über die linke Wange lief. Obwohl der Krieg ihn schrecklich gezeichnet hatte, war es doch ein freundliches Gesicht. Um seine Augen lagen Lachfalten eingegraben und genauso um seinen Mund. Und die beiden tiefen Furchen direkt zwischen den Augenbrauen verrieten Tatkraft, die sich mit einem heißen Temperament paarte, dem laute Wutausbrüche genauso vertraut schienen‚ wie überschäumende Lebensfreude und gelegentlicher Übermut.
„Warum? Du bist immerhin der kleine Bruder meines Freundes und Waffengefährten Aorélian de Douarnenez. Möge seine edle Seele die Wonnen von Inis Gwenva genießen, bis die alten Götter ihm ein neues irdisches Dasein in unserer Welt bestimmen. Du warst der Schüler eines hochgelehrten Mannes, über den ich so Einiges gehört habe. Du bist der Erbe des treuesten Verbündeten meines Bruders Yann... und für einen Ollamh machst Du sogar einen ganz anständigen Knappen her, Sévran de Carnac!“
Während Sévran seinen neuen Lehrmeister zum ersten Mal, seit er in Rennes angekommen war in aller Ruhe studierte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er keinem Feind gegenüber saß, sondern einem Menschen, dem er wirklich vertrauen konnte. Er war vielleicht keiner von ihnen, doch Arzhur de Richemont wusste... Er wusste viel mehr, als er in der Öffentlichkeit durchscheinen lies!
In den drei Monaten seit er die Sicherheit und die Geborgenheit von Brocéliande verlassen hatte, hatten Sévran ganz offensichtlich die neuen Eindrücke am herzoglichen Hof der Bretagne so zugesetzt, dass sein Blick für wichtige Dinge davon getrübt worden war.
Richemonts blaue Augen lächelten, während sie dem prüfenden Blick des Jüngeren über das Schachbrett hinweg standhielten: „Ist Dir diese Antwort für den Augenblick genug, Derwyddon?“
Sévran überlegte kurz seinen Zug. Dann nahm er Richemont den weißen Turm, der seinen König schützte: „Schach“, erwiderte der junge Mann laut und deutlich. Seine schwarzen Rabenaugen fixierten immer noch den ritterlichen Lehrmeister. Doch dieses Mal waren sie nicht undurchdringlich, sondern offen. Dann lehnte er sich ebenfalls zurück und verschränkte die feingliedrigen Hände im Schoß. Die Anspannung war aus seinem Gesicht gewichen und hatte einem seltenen Lächeln Platz gemacht. Richemont war zufrieden. Nach drei Monaten hatte er es endlich geschafft den Panzer aus Eis, Vorsicht und Misstrauen zu durchbrechen, der den jungen Mann ständig umgab, wie eine unsichtbare Mauer.
Die Historia Regum Britanniae lag vergessen auf einem Kissen in der Nische. Marguerite hatte die Knie unters Kinn gezogen und saß mäuschenstill auf ihrem Platz, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Natürlich gehörte es sich für eine junge Dame ihres Ranges nicht, die Gespräche anderer zu belauschen. Genauso wenig gehörte es sich, die Waffenübungen der Soldaten und Knappen heimlich zu beobachten. Trotzdem spitzte sie, sehr neugierig geworden, die Ohren und beobachtete aufmerksam ihren Onkel und den jungen Carnac.
Die beiden Männer hatten die Schachpartie inzwischen aufgegeben. Zuerst war sie zu tief in ihre Lektüre versunken gewesen, um zu bemerken, wie Arzhur und anschließend Sévran den kleinen Saal betreten hatten. Auch das leise Klicken der Figuren aus Ebenholz und Elfenbein, die über das Schachbrett geschoben wurden, hatte sie anfänglich einfach überhört. Doch dann waren die leisen Worte, die die beiden miteinander austauschten immer deutlicher und klarer durch den Nebel der farbenprächtigen Bilder der Historia an ihre Ohren gedrungen. Endlich hatte sie zu Lesen aufgegeben und das Manuskript auf die Seite gelegt.
„Was hat Dir der ehrenwerte Konnetabel von Cornouailles dann eigentlich beigebracht?“ In der Stimme ihres Onkels vermischten sich auf eine fast komische Art Erstaunen und Entsetzen miteinander. Sein Knappe hatte ihm im Verlauf der letzten Stunde ehrlich gestanden, dass er wirklich absolut keine Ahnung vom Waffenhandwerk hatte und sich auch gar nichts daraus machte.
Marguerite verkniff sich das Lachen, als sie die Antwort von Carnac auf Arzhurs Frage hörte.
„Gud’wal? Außer ordentlich zu Pferde zu sitzen? Eigentlich gar nichts, Mesire. Ich hab es immer so eingerichtet, dass mein Meister Aodrén mich auslösen kam, bevor Gud’wal überhaupt etwas Vernünftiges mit mir anstellen konnte. Und wenn das nicht klappte, dann habe ich mich solange dumm gestellt, bis der Sire de Morlaix es von alleine mit mir aufgab und mich zu meinen Studien zurückschickte.“
Richemont schüttelte den Kopf: „Und Dein Vater hat das so einfach durchgehen lassen? Ein durchtriebenes Kind, dass den Konnetabel von Cornouailles zum Narren hält... den Gud’wal Le Floa’ch de Morlaix, der durch seinen Mut und seine Tapferkeit in Owain Glendowers Kampf gegen Lancaster eine lebende Legende wurde und zu dem unzählige junge Edelknappen mit Ehrfurcht und Neid aufblicken, wie zu einem alten keltischen Kriegsgott!“
Sévran zuckte nur mit den Schultern. Es hatte Gud’wal nie sonderlich betrübt, ausgerechnet von ihm zum Narren gehalten zu werden. Er hatte für seine Abneigung gegen jede Form der Gewalt großes Verständnis gehabt. Und außerdem hatte der alte Kriegsmann sich ja immer mit den Reitkünsten seines Schülers und seinen Fertigkeiten im Bogenschießen angeben können….
Marguerite musste im Stillen ihrem Onkel Recht geben. Umso mehr sie in ihrem Versteck hörte, umso stärker war auch sie davon überzeugt, dass der „Rabe“ wirklich ein ganz durchtriebener Strolch war... Vor allem war er einer, der sich ständig vor den Augen der Welt versteckte, umso besser sein eigenes, undurchsichtiges Spiel spielen zu können. Alles was sie bis jetzt heimlich erfahren hatte, machte den jüngsten Sohn des Herzogs von Cornouailles nur noch interessanter, als er es zuvor schon gewesen war.
Sévran hob die Hände in einer entwaffnenden, fast entschuldigenden Geste: „ Meinen Vater hat es damals von allen natürlich am wenigsten gestört. Es war ja nicht mein Weg und er hatte zwei gesunde, ältere Söhne, die eine wahre Zierde für die Ritterschaft waren... Aorélian führte bereits seine eigene Kriegsfahne, die wohl bekannt war und Glaoda ritt mit Lannion als Knappe. Außerdem; das jüngste Kind einer Familie hat immer Narrenfreiheit!“ er schwieg einen Augenblick und dachte mit leiser Wehmut an zuhause zurück.
Es hatte seinen Vater, den Herzog Ambrosius nie gestört das er vor Waffen, Gewalt und rauen Spielen Abscheu empfand. Gud’wal selbst war mit ihm immer sehr nachsichtig gewesen, denn einer seiner eigenen Söhne –Yannick - hatte gleichfalls den alten Weg gewählt und als Kind genau dieselbe Abscheu vor Waffen und Gewalt an den Tag gelegt. Der Konnetabel von Cornouailles und die Waffenmeister auf Concarneau hatte ihm eigentlich nur dass beigebracht, was er selbst hatte erlernen wollen: Reiten, Bogenschießen, Fährten lesen, Falken abrichten... „Mein Vater hat mich nie gezwungen, gegen meinen Willen irgendeine Waffe anzufassen. Nur Aorélian hat damals so lange auf ihn und Mutter eingeredet, bis Ambrosius, Gud’wal endlich bat, mir wenigstens das Allernotwendigste beizubringen, um mich meiner Haut zu wehren. Falls es eines Tages unbedingt nötig sein sollte und ich vielleicht nicht in der Lage wäre...“, er schluckte kurz und schloss für einen Moment die Augen, bevor er weitersprach, „ andere Mittel einzusetzen, um mir Respekt zu verschaffen.“
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