Claire war davon überzeugt, dass die Materia Primae zum großen Werk sich nur im Mineralreich finden ließ. Seitdem es ihm gelungen war, das Merkurialwasser perfekt zu destillieren, arbeitete er fanatisch an der zweiten Stufe des Flamelschen Prozesses. Ohne diese Forschungen - davon war Saint Germain überzeugt - wäre er in Anbetracht der Schrecken, an denen Laval und de Craon ihn teilzunehmen zwangen, schon lange wahnsinnig geworden. Er verfluchte den Tag, an dem er sich dazu hatte überreden lassen, die Grabschändung von Paris vorzunehmen.
Ohne um Erlaubnis zu fragen, zog Gilles das Buch des Leviterprinzen vom Tisch und begann nachlässig darin zu blättern. Jedes Mal, wenn er die Drohung las, die Abraham sozusagen als Einführung zu seinem Werk verfasst hatte, musste er schmunzeln. Worte. Nichts als Worte. Sie hatten offensichtlich Nicolas Flamel keinen Schaden zugefügt. Der Alchimist war hochbetagt eines natürlichen Tod gestorben.
„Und Ihr seid wirklich davon überzeugt, dass es ausreicht Gold, Silber, Blei, Magnesium, Schwefel und Arsen in eine unnatürliche, flüssige Form zu quälen und schon erreichen wir die Schwärzung und den Abschluss der Nigrendo?“, erkundigte der junge Mann sich amüsiert bei seinem Gefangenen, während sein schlanker Zeigefinger sorgsam jeden einzelnen goldenen Buchstaben des Fluches von Abraham nachzog: „Marantha“, formten seine Lippen leise das Wort der Macht, „Marantha. Fluch jedoch, über jeden, der diese Schrift aufschlägt und der nicht aus dem Stamme Judah ist. Fluch jedem, der nicht Priester oder Gelehrter und der diese Schrift in Händen hält. Er soll vernichtet und ausgelöscht werden. So wie Korah, Dathan und Airam soll er vernichtet werden oder im Feuer verbrennen.“
Claire hob kurz den Kopf und betrachtete durch einen Vorhang aus fettigen, blonden Haaren seinen Peiniger. Er war offensichtlich direkt aus seinen Gemächern im Palas hinunter in die Gewölbe des Turms geeilt, denn Laval trug feine, ungefütterte Gewänder aus dunkelgrünem Samt und eine leichte Cotte aus Seide. Sein rundes Gesicht war frisch rasiert und er verströmte einen angenehmen Geruch nach teuren orientalischen Ölen, mit denen diejenigen die sich diesen Luxus leisten konnten ihr wöchentliches Badewasser parfümierten. Der junge Mann wirkte völlig entspannt und schien in prächtiger Gemütsverfassung. Der Alchimist seufzte leise und ergab sich in sein Schicksal. Er fand sich damit ab, dass der Gedanke an ein heißes Bad Illusion war. Doch vielleicht würde es ihm in dieser Nacht wenigstens gelingen, seine Haftbedingungen etwas zu verbessern, wenn er dem Erben des Montmorency-Laval-Craon Vermögens nach dem Mund redete.
Die Wochen die seiner erzwungenen Eheschließung mit der unglücklichen Catherine de Thouars gefolgt waren, hatten Gilles in einer erbärmlichen Stimmung gesehen. Er war nur selten im Laboratorium aufgetaucht und die wenigen Besuche waren fast genauso schlimm gewesen, wie die Nacht, in der Laval ihn zum Bleiben überredet hatte.
Claire erhob sich mühsam von seiner Sitzgelegenheit und begab sich hinüber zu seinem Versuchsaufbau. Er bemühte sich aufrecht zu gehen, damit Laval nicht den Eindruck bekam, er wäre in dieser Nacht schwach oder verzweifelt. „Wenn Ihr das dritte Kapitel der Schrift aufschlagen wollt, Mesire de Laval.“ Seine Stimme war fest. Er verdrängte für einen Augenblick die Hoffnungslosigkeit, die seit Wochen schon in müßigen Stunden sein ständiger Begleiter war: „ Betrachtet dabei ebenfalls die zweite Allegorie von Abraham. Genau gesehen ist die in der Rohmaterie enthaltene Erde der Schwefel - Sulfur. Und das Wasser ist das Quecksilber - Merkur.“
„Das eine warm und trocken, das andere kalt und feucht.“ Laval nickte zustimmend und nahm seinen Finger von den mysteriösen, goldenen Lettern des Fluches von Abraham Eleazar. Die Allegorie war eindeutig: Sonne und Mond. Zwei Drachen. Der eine mit Flügeln, der andere ohne Flügel. „Dies ist der Drache...“, fuhr Saint Germain schulmeisterlich fort, „...der die goldenen Äpfel im Garten der hesperidischen Jungfrauen bewacht. Es sind folglich die beiden Schlangen, die von Juno dem jungen Herkules in die Wiege gelegt wurden. Der Drache ist im Bereich der Allegorie lediglich eine andere Darstellungsform der Schlange...“
Gilles schlug das Buch endlich zu und zog die Augenbrauen hoch. Dann überlegte er einen Augenblick. Seine Bildung und seine Kenntnisse der Klassiker standen in nichts seinen Fähigkeiten mit Schwert und Lanze nach. Er besaß in seiner eigenen, kostbaren Bibliothek eine wundervoll illustrierte Abschrift der „Zwölf Arbeiten des Herkules“. Vor seinem inneren Auge versuchte der junge Mann den Garten der Hesperiden entstehen zu lassen und sich an die Details zu erinnern: „Herkules erwürgte diese Schlangen, Saint Germain.“
Der Alchimist nickte: „In der Tat. Er überwand sie, wie sie der Adept des Großen Werkes im Anfang seiner Arbeit überwinden muss. Das heißt, er muss sie zerstören, wie Herkules die Schlangen der Juno zerstört hat...damit aus der Zerstörung Rebis, res bina, die zweifache Sache entstehen kann.“
„ Und Ihr seid davon überzeugt, dass der Merkur der Weisen, der in sich den Schwefel enthält diese Materia Secunda ist ?“
Claire stand Laval gegenüber und hatte die Hände auf der Holzplatte seines Arbeitstisches abgestützt. Die Anstrengung an der feuchten Wand hochzuklettern machte sich bemerkbar. Seine Knie zitterten. Sein Herz schlug in einem unregelmäßigen Rhythmus. Seit den Morgenstunden, als ihm der schweigsame Mann, der über die Gewölbe von Champtocé wachte, ein Stück dunkles Brot und einen Becher frischer Milch gebracht hatte, hatte er keine Nahrung mehr zu sich genommen. Die winterliche Kälte setzte ihm trotz des Feuers, das ständig im Athenor brannte heftig zu und die Feuchtigkeit des unterirdischen Gewölbes ließ seine Gelenke schmerzen. Dazu gesellten sich noch die Folgen seiner Misshandlung durch Gilles...nach seiner Rückkehr von Machécoul hatte de Craon lediglich dafür gesorgt, dass er aus dem Verlies, in das Laval ihn blutend und gebrochen geworfen hatte, zurück in sein Laboratorium geschafft wurde. Dann hatte er die Natur ihr Werk tun lassen. Claire spürte, wie die Rippen, die Laval ihm gebrochen hatte über seine Lunge kratzten. Sie waren genauso krumm zusammengewachsen, wie das vermaledeite Handgelenk. Er hustete trocken, bevor er sich dazu aufraffte dem Teufelsbraten in seinen feinen Kleidern eine diplomatische Antwort zu geben: „ Es ist einen Versuch wert, Mesire de Laval.“
Natürlich war Claire von seiner Theorie überzeugt, doch Laval hatte schon mehrfach deutlich ausgesprochen, dass er nicht viel von den Mineralisten unter den Alchemisten hielt. Er vertrat, dass die Allegorien in Abrahams Handschrift keine Hinweise auf irgendwelche toten Substanzen enthielten, sondern klar zeigten, das sämtliche Grundstoffe des großen Werkes lebendige Stoffe waren...Harn, Blut, Samenflüssigkeit und dergleichen. Er rechtfertigte seine grauenvollen Kindsmorde kaltblütig mit der Suche nach eben dieser Substanz, die notwendig wäre, um die zweite Stufe des Flamelschen Prozesses erfolgreich abzuschließen.
Sowohl Gilles, als auch de Craon suchten das in ihren Augen allein Wirksame, das Astral zu erhalten und bearbeiteten daher die organischen Substanzen entweder nach dem Quaternär: Putrefaktion, Separation, Purifikation, Union, oder vereinfacht nach dem Ternär: Putrefaktion, Zirkulation, Destillation.
Allerdings hatte ihre Methode bis zu diesem Tag noch genauso wenig Resultate gebracht, wie die seine. Lediglich das Kinderschlachten und Kindersterben auf Champtocé nahm inzwischen unheimliche Ausmaße an.
Wo früher Mesire de Laval gelegentlich mit einem Tonkrug voller Innereien aufgetaucht war, brachte nun der Kerkermeister beinahe täglich schreckliche Ingredienzien hinunter ins Labor.
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