Mit dieser Einstellung kehrte ich zurück in das Sprechzimmer und ließ mich erneut auf den Stuhl neben dem Schreibtisch nieder. Meine Frauenärztin trug die neuen Erkenntnisse in die Patientenakte ein. Gleich daneben lag ein Streifen mit insgesamt vier Ultraschallbildern. Von meinem Baby. Ich konnte diesen Anblick einfach nicht ertragen, denn trotz meiner Entschlossenheit ließ es mich nicht kalt und sofort wurden meine Augen erneut ganz gläsern. Ich versuchte mich abzulenken und wandte meine Aufmerksamkeit dem Kalender an der Wand zu. Seit Anfang März waren bereits einige Wochen vergangen. In welcher Woche musste ich sein? Erneut versuchte ich mich an intime Momente mit Florian zu erinnern und als ob die Frauenärztin meine Blicke deuten konnte, erläuterte sie „Frau Jakobi, Sie sind in der siebten Schwangerschaftswoche plus eins. Der errechnete Geburtstermin ist der zwölfte Dezember.“
Entsetzt sah ich die Ärztin an und ein „Was, schon?!“, platzte aus mir heraus.
Sie nickte.
Irritiert hackte ich nach. „Wie kann das nur sein? Also, ich meine, gemäß meiner Krankengeschichte war es bislang schier unmöglich, auf natürliche Weise Kinder zu bekommen und außerdem haben mein Mann und ich stets vorsorglich mit Kondomen verhütet.“ Ich senkte den Kopf und meine Stimme. „Das dachte ich zumindest“, fuhr ich fort. „Wie ist das somit möglich?“
Frau Doktor Funke schmunzelte und erwiderte „Es ist der Klassiker. Ich meine, von wieviel zuerst künstlich Befruchteten hört man, wenn die Familienplanung abgeschlossen und der Kopf frei ist, es doch klappt. Die Möglichkeit besteht. Außerdem kann kein Verhütungsmittel eine hundert prozentige Garantie auf Sicherheit geben. Dabei spielt es keine Rolle, ob mit einem Kondom, der Pille oder einer Spirale verhütet wird. Ein kleines Loch in einem Kondom kann niemand einfach so erkennen. Da muss man schon sehr genau hinsehen oder den Gummi am besten mit Wasser befüllen, sonst wird es schwierig. Zumal Sie überhaupt verhütet haben.“
„Ja, das ist mir auch alles klar, aber dennoch …“ Eine kleine Pause zum Verschnaufen legte ich ein, bevor ich weitersprach. „Dass das tatsächlich passiert ist … Jetzt gehören wir zu den Paradebeispielen.“ Auf diesen Titel hätte ich gut verzichten können und am liebsten mit einem großen Schild um den Hals gehangen, durch die Straßen laufen und laut hinausbrüllen können: Titel abzugeben! Heute kostenlos! Einfach mitnehmen! Ohne Rückgaberecht! Da meine Neugierde größer war, verharrte ich und hackte stattdessen nach. „Können Sie mir sagen, wann es passiert ist?“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Eigentlich heißt es vierzehn Tage nach Beginn der Periode. Allerdings habe ich schon skurrile Dinge erlebt. Man kann auch sagen, die ersten vierzehn Tage ist eine interessante Phase, die letzten vierzehn Tage sind für eine Befruchtung eher ausgeschlossen.“ Meine Frauenärztin kannte mich so gut und konnte meine Verwunderung und gleichzeitige Verwirrtheit deuten. Anstatt aus allen Wolken zu fallen, ergänzte sie, während sie mir ein kleines blaues Faltblatt über den Schreibtisch schob „Frau Jakobi, Sie haben noch etwas Bedenkzeit, aber lassen Sie sich im Falle eines Schwangerschaftsabbruches nicht ganz so viel Zeit. Falls Sie diesen in Betracht ziehen, gebe ich Ihnen den Flyer der Diakonie mit. Sie müssen sich an die Beratungsstelle bezüglich eines Gespräches wenden und zusätzlich zu Ihrer Krankenkasse zwecks Kostenübernahme vorsprechen.“ Ich nahm den Flyer dankend an und hackte zu dem Thema nach, denn momentan stand die Entscheidung eher zu einem Abbruch, als für das Austragen eines Kindes. „Sie bekommen eine Überweisung für das örtliche Krankenhaus. Der Eingriff wird ambulant durchgeführt, das heißt, in der Regel gehen Sie am gleichen Tag nach Hause, sind aber dann gut eine Woche lang krankgeschrieben.“ „Bekomme ich dennoch einen Mutterschaftspass ausgestellt?“ „Nein, erst wenn Sie eine Entscheidung getroffen haben. Wenn Sie das Kind möchten, dann stelle ich Ihnen den Pass aus. Wenn nicht, dann trage ich lediglich den Hinweis `Fehlgeburt´ in mein System ein.“ Sie klappte meine Patientenakte zu, legte aber vorher die Ultraschallbilder in diese hinein. „Sie überlegen in Ruhe und rufen mich so oder so an. Entweder ich stelle Ihnen den Mutterpass aus oder die Überweisung.“ Sie reichte mir die Hand und ich bedankte mich. „So machen wir es“. Immer noch völlig verwirrt und durcheinander trottete ich in die Kabine, zog meine Jacke an, ließ den Flyer in meiner Tasche verschwinden und trat mit dieser aus der Kabine. Die Sprechstundenhilfe blickte sofort zu mir auf und fragte. „Ist alles in Ordnung?“ Mit gesenkten Kopf lief ich an ihr vorbei Richtung Praxisausgang und stotterte mit einem Schulterzucken vor mich hin. „Naja, ich weiß nicht. Eigentlich nicht.“ Ich wollte nur noch schnell aus der Praxis heraus und von niemanden angeredet werden. Ich musste mich erst einmal selbst sammeln und über das Gesprochene, aber vor allem Gesehene nachdenken. Ich sah ein kleines Wesen und dessen Herzschlag. Mein Baby. Wie kann ich nur auf den Gedanken kommen, es wegmachen zu lassen? Es zu töten? Bei dem Gedanken fasste ich mir intuitiv an den Bauch, so als ob ich meine Hände schützend vor mir selbst über das Kind halten wollte. Es behalten? Das kam aber auch nicht in Frage! Realistisch gesehen kam ein weiteres Kind nicht in Betracht. Hach, ich haderte mit mir und ich beschloss, Florian von dem in der letzten halben Stunde Erlebten sowie mein Entschluss und gleichzeitigen Zweifel nichts zu erzählen. Meine Gedanken musste ich vorrangig für mich ordnen und die Eindrücke des Arztbesuches auf mich wirken lassen. Es half nichts, eine Ablenkung musste her und da traf es sich gut, dass ich schnurstracks und auf direktem Wege mit dem Auto auf Arbeit fuhr und mich für die nächsten Stunden auf alles andere konzentrieren konnte, was nicht mit Babys oder Schwangerschaft zu tun hatte.
… das Bürogebäude betrat und in der sechsten Etage angelangt war, in welcher sich mein Büro befand, kam mir meine Chefin auf dem Flur entgegen. Nicht wie erwartet, fragte sie nach dem Grund für meinen späteren Arbeitsbeginn, sondern begrüßte mich lediglich mit einem kurzen „Guten Morgen“ und lief an mir vorbei. Erleichtert flüchtete ich in mein Büro und schloss hinter mir die Tür. Je weniger Fragen, umso weniger Notlügen musste ich mir einfallen lassen. Da ich ein Arbeitszimmer für mich alleine hatte und sich die Akten nur so auf meinem Schreibtisch stapelten, konnte ich mich für den restlichen Arbeitstag sehr gut in diese vertiefen und fand genug Ablenkung. Genügend, um die neuen Umstände völlig zu vergessen. Zur Mittagspause versammelte sich das gesamte Kollegial im Pausenraum und wir tranken zusammen eine Tasse Kaffee, jeder aß entweder sein Mitgebrachtes von zu Hause oder verspeiste etwas Gekauftes aus der Kantine. Gespräche über die Arbeit waren tabu und falls doch jemand in die Verlegenheit käme, irgendetwas Geschäftliches anzusprechen, wurde sofort mit unserer Sparbüchse in Form einer Kaffeemühle geklappert und derjenige Redner musste fünfzig Cent in den dafür vorgesehenen Schlitz einwerfen. Eine sehr gute Idee, wie ich fand. Zu den Frühstücks- und Mittagsrunden herrschte stets eine lockere Stimmung und private Themen wurden besprochen, zumindest nur so viel, wie jeder von sich Preis geben wollte.
Niemand erwähnte mein zu Spätkommen, denn heute war Herr Müller das Thema. Ein jahrelanger Kollege, der diese Woche Urlaub hatte, bald in seinen wohlverdienten Ruhestand ging und diesbezüglich eine große Feier für die zukünftigen ehemaligen Kollegen plante. Unser Gesprächsinhalt bezog sich nunmehr darauf, was wir, als Kollegial, für Überraschungen planen wollten und für Ideen für das Abschiedsgeschenk hatten. Anregungen wurden gesammelt und sofort notiert. Zugegeben, ein Stück weit unterhielten wir uns zwar doch über die Arbeit, aber für das Einwerfen in die Sparbüchse wurden tatsächlich nur fachspezifische Themen bestraft. Auf jeden Fall lenkte mich die angeregte Unterhaltung von meinem persönlichen Problem ab und die restliche Zeit auf Arbeit verrannte wie im Fluge. Pünktlich um fünfzehn Uhr fuhr ich mein Computer runter. Feierabend. Nun hieß es für mich, zur Kita zu fahren, um meine Söhne abzuholen.
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